Brüssel. Hilfsorganisationen kritisieren Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs in Brüssel
Hilfsorganisationen und Politiker haben die von der Europäischen Union angekündigten Konsequenzen aus der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer als vollkommen ungenügend. Als „Gipfel der Schande“, bezeichnete die Flüchtlingshilfe Pro Asyl die Beschlüsse der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel. „Die EU begeht einen Verrat an ihren Werten und an den Flüchtlingen“, erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erklärte, der Gipfel habe die Chance verpasst, die „tödlichen Fehler der Vergangenheit“ grundlegend zu korrigieren.
In Brüssel hatte sich der EU-Gipfel nach der jüngsten Flüchtlingskatastrophe mit bis zu 900 Toten darauf verständigt, die Finanzmittel für den Grenzschutzeinsatz mehr als zu verdreifachen. Damit sollen die Seenotrettung verstärkt und auch der Kampf gegen Schlepperbanden aufgenommen werden. Dazu werden etwa Großbritannien, Frankreich und Deutschland Kriegsschiffe ins Mittelmeer verlegen, falls diese von der EU-Grenzschutzagentur Frontex angefordert werden. „Der Beschluss ist ein weiteres Aussitzen der humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer und wird in den nächsten Monaten viele weitere Menschenleben kosten“, erklärte Amnesty International. Auch die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), kritisierte die Beschlüsse. „Die Ergebnisse des EU-Sondergipfels sind denkbar mager“, sagte sie. Eine ordentliche Seenotrettung sei nicht auf die Beine gestellt worden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte in Brüssel erklärt, langfristig müsse das EU-Asylsystem geändert werden, die Flüchtlinge sollten gerechter verteilt werden. Bisher gilt nach der Dublin-III-Verordnung, dass für die Asylbewerber stets das Land zuständig ist, in dem der Bewerber zuerst europäischen Boden betreten hat.
Das Problem der Regelung und die ungenügende Registrierung von Asylsuchenden etwa in Italien führten dazu, so Merkel, dass „dreiviertel aller Asylbewerber auf fünf Mitgliedstaaten entfallen“. Jetzt soll eine Verteilung auf freiwilliger Basis „erprobt“ werden. Unklar ist, nach welchen Kriterien die Flüchtlinge auf möglichst viele Staaten verteilt werden könnten.
Der Testlauf könnte das Ende der Dublin-Regeln bedeuten. Ein solcher Schritt dürfte zu heftigen Diskussionen führen. Viele Länder, die sich bisher hinter Deutschland oder Schweden verstecken, werden dann selbst Asylbewerber aufnehmen müssen. Da gibt es sowohl Bremser als auch Förderer.
In Rom nimmt man die Ankündigung Merkels mehr als wohlwollend zur Kenntnis. Italien setzt sich seit Jahren dafür ein, dass eine Art Quotenregelung eingeführt wird. Das Land kann den Zustrom an Flüchtlingen kaum bewältigen. Die Auffanglager in Sizilien sind überfüllt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Italien deshalb die Flüchtlinge oft nicht registriert und einfach nach Norden ausreisen lässt.
Im Prinzip scheint Frankreich mit Merkels Forderung einverstanden. Auch Innenminister Bernard Cazeneuve fordert: „Es muss eine europäische Asylpolitik geben.“ Die jüngsten Katastrophen machten deutlich, dass die Anstrengungen unter den europäischen Ländern besser aufgeteilt werden müssten. Die bisherige Regelung erlaubt es Frankreich, die überwältigende Mehrheit der Migranten wieder auszuweisen. Ein Blick hinter die Statistiken zeigt, dass 60 Prozent davon nicht in ihre Heimat abgeschoben werden, sondern in europäische Nachbarländer. Das geht schnell und kostet weniger als ein Charterflug nach Afrika. Und mit einem erstarkten Front National hat die Regierung kein Interesse, zusätzliche Asylbewerber aufzunehmen. 64.000 Asylanträge wurden 2014 in Frankreich gestellt, drei Mal weniger als in Deutschland, und nur ein sehr knappes Drittel davon wurde positiv beschieden.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán will von einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge nichts wissen. Er würde das Flüchtlingsproblem am liebsten radikal lösen und forderte „freie Hand“ für die Mitgliedstaaten, ihre Migrationsstrategien samt Grenzschutz individuell zu bestimmen. Das Problem seien die „Brüsseler Regeln, die unsere Vorkehrungen gegen illegale Einwanderung unwirksam machen“.
Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven trat bereits vor dem Gipfel für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge ein. Sein Land zählt zu den EU-Staaten, die die meisten aufnehmen. „Es sollte mehr legale Möglichkeiten für Flüchtlinge geben, in die EU zu kommen“, sagte Löfven in Brüssel.
Die Flüchtlingskrise trifft Großbritannien in einem politisch heiklen Moment. Am 7. Mai ist die Unterhauswahl; alles, was mit Einwanderung zu tun hat, wird kontrovers diskutiert. Die United Kingdom Independence Party (Ukip) wirft der Regierung vor, an der Eindämmung der Immigration gescheitert zu sein. Unter diesen Umständen eine steigende Zahl an Flüchtlingen und Asylanten aufzunehmen, ist politisch daher nicht durchsetzbar.
Die Iberer wollen eine Änderung des Asylrechts, sie befürchten eine Flut neuer Anträge. Spanien ist eines der wichtigsten Ankunftsländer für Flüchtlinge. Aus Sicht Spaniens wäre es gerechter, wenn bei der Lastenverteilung berücksichtigt würde, dass das Land einen besonders großen Beitrag zur Sicherung der EU-Außengrenze leistet.
In Warschau möchte man unbedingt verhindern, dass eine Neuregelung des Asylrechts sich an den Einwohnerzahlen der EU-Staaten orientiert. Polen nimmt gemessen an seiner Größe vergleichsweise wenig Flüchtlinge auf. 2014 haben gerade einmal 114 Syrer einen Asylantrag in Polen gestellt. So verwundert es nicht, dass Regierungschefin Eva Kopacz beim Gipfel auf eine bessere Grenzsicherung im Mittelmeer pochte. „Unsere Solidarität wird vor allem darauf beruhen, dass wir Frontex sehr stark unterstützen werden. Wir werden unsere Grenzschutz-Offiziere schicken.“