Berlin. Lange wurde die Bevölkerungspolitik vernachlässigt. Frankreich macht es besser
Deutschland hält einen traurigen Rekord: In keinem anderen entwickelten Land der Erde leben in Relation zur Gesamtbevölkerung weniger Kinder. Weil die Geburtenrate bereits seit mehr als drei Jahrzehnten auf dem niedrigen Niveau von 1,4 Kinder pro Frau verharrt, steht die Gesellschaft vor dramatischen Veränderungen: Immer weniger Arbeitskräfte müssen eine wachsende Zahl an Rentnern finanzieren – eine enorme Herausforderung für den Sozialstaat und auch für die Unternehmen, denen der Nachwuchs auszugehen droht. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hält eine aktiv betriebene Bevölkerungspolitik für unabdingbar. Mehr Geburten müssten das prioritäre Ziel der Politik sein, forderte er. Denn der Kindermangel sei „das existenzielle Problem unserer Nation“.
Den Deutschen gilt staatliche Bevölkerungspolitik als suspekt. Die einen denken dabei mit Grausen an die Mutterkreuz-Ideologie der Nazis, die anderen an das „Abkindern“ in der sozialistischen DDR. In den 70er-Jahren stand die Emanzipation der Frau ganz oben auf der Agenda.
Im wiedervereinigten Deutschland spielte Familienpolitik zunächst kaum eine Rolle. Die wichtigsten Impulse kamen vielmehr vom Bundesverfassungsgericht, das 1998 eine drastische Erhöhung der steuerlichen Kinderfreibeträge verlangte. Auch das Kindergeld wurde daraufhin kräftig angehoben. Politisch rückte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer mehr in den Mittelpunkt: Mehr Krippen und Ganztagsschulen nach dem Vorbild Frankreichs, Skandinaviens und der früheren DDR wurden geschaffen. Dieser zunächst von SPD und Grünen begonnene Kurswechsel wurde ab 2005 dann von CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen mit Volldampf vollzogen. Diente Familienpolitik zuvor vor allem dem Zweck, das Wohlergehen von Eltern und Kindern finanziell abzusichern, ging es nun vorrangig darum, Müttern den Weg in den Arbeitsmarkt zu ebnen. Die Einführung des Elterngeldes, die Krippenoffensive und die Reform des Scheidungsrechts prägen das neue Leitbild der doppelt berufstätigen Eltern. Die anfängliche Hoffnung von der Leyens, das die zusätzlichen Milliardensummen auch einen Anstieg der Geburtenrate zur Folge haben könnten, erwiesen sich als Illusion. Erreicht wurde das Ziel, die Babypausen zu verkürzen und die Erwerbsquote der Mütter zu erhöhen.
Ob sich die Geburtenrate in Deutschland überhaupt noch einmal steigern lässt, ist sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft umstritten. Kinderreiche genießen in Frankreich oder in den USA eine hohe Wertschätzung, hierzulande gelten sie eher als benachteiligt oder gar als asozial. Kein Wunder, dass in Deutschland Großfamilien eine Seltenheit sind. Die Franzosen fördern steuerpolitisch mit einem Familiensplitting besonders das dritte Kind. So zahlt eine fünfköpfige Familie in aller Regel keine Einkommensteuern. Der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn weist in der Studie „Das demografische Defizit“ darauf hin, dass in Deutschland zwar das erste Kind stärker als in Frankreich gefördert wird, dass aber im Nachbarland das zweite und dritte Kind deutlich stärker gefördert werden. Das französische Anreizsystem sei erfolgreicher, so der Ökonom. Denn Untersuchungen zeigten, dass sich Paare in ihrer Entscheidung für das erste Kind kaum von finanziellen Anreizen beeinflussen ließen, bei der Entscheidung für jedes weitere Kind dagegen schon.
Experten gehen indes davon aus, dass nicht nur Geldleistungen den Kinderwunsch beeinflussen, sondern auch das Angebot an Betreuungsplätzen. Darüber hinaus spielt auch die Familienfreundlichkeit am Arbeitsplatz eine große Rolle. Experten, die für die Bundesregierung die Wirksamkeit aller familien- und ehebezogenen Leistungen analysiert haben, bewerten insbesondere den Krippenausbau und das Elterngeld positiv. Auch das Kindergeld und die Kinderfreibeträge erhöhten die Chancen, dass Kinderwünsche realisiert würden, heißt es in ihrer Studie.
Unsichere Arbeitsverhältnisse wie etwa befristete Jobs seien dagegen ein Hindernis. Dass das 2007 eingeführte Elterngeld bis heute keinen Babyboom erzeugt hat, spricht nach Einschätzung von Forschern nicht gegen den Nutzen dieses Instruments. Es brauche einfach Zeit, bis sich familienpolitische Maßnahmen auswirkten. Der Chef des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), Norbert Schneider, hält den Blick auf die Geburtenrate ohnehin für zu eng. Es komme nicht allein darauf an, ob die Bevölkerung wachse oder schrumpfe, sondern auch auf deren Zusammensetzung. Deutschland könne es sich nicht länger leisten, dass erhebliche Teile der nachwachsenden Generation ohne Ausbildungsabschluss dastehen: „Darin besteht möglicherweise ein größeres Problem als in der Dynamik der Schrumpfung.“