Berlin . Nach dem NSU-Debakel wird der Inlandsgeheimdienst neu aufgestellt. Informanten dürfen jetzt auch Straftaten begehen
Als Konsequenz aus dem Ermittlungsdesaster im Fall der rechten Terrorzelle NSU will die Bundesregierung die Zusammenarbeit der Verfassungsschützer in Bund und Ländern neu ordnen. Das Kabinett brachte dazu am Mittwoch eine seit Langem diskutierte Reform auf den Weg.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll mehr Befugnisse bekommen und im Zweifel auch in den Ländern operativ eingreifen können. Für den Einsatz von Informanten aus der jeweiligen Szene, den sogenannten V-Leuten, werden im Gesetz erstmals Regeln festgelegt.
Die Reform ist eine Reaktion auf die Verstrickungen und Versäumnisseder Behörden im Fall NSU. Der Verfassungsschutz war der Terrorgruppe jahrelang nicht auf die Spur gekommen. Der rechtsextremen Gruppe werden zehn Morde in den Jahren 2000 bis 2007 zur Last gelegt, an neun türkisch- und griechischstämmigen Männern und einer Polizistin. „Wer Sicherheit gewährleisten will, muss seine Sicherheitsbehörden angemessen ausstatten“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU).
Die Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern sollen nun per Gesetz zu einem intensiveren Informationsaustausch verpflichtet werden und eigene Erkenntnisse ausführlicher als bislang in eine gemeinsame Datenbank einspeisen. Das Bundesamt soll die Zusammenarbeit der Ämter koordinieren und die Erkenntnisse zu wesentlichen Phänomenbereichen zentral auswerten. Bei gewaltorientierten Bestrebungen in den Ländern soll das Bundesamt notfalls selbst in die Beobachtung einsteigen können. Bislang waren die Landesämter nur angehalten, nach eigenem Ermessen Informationen an den Bund zu übermitteln.
Linke und Grüne zeigten sich unzufrieden mit den Plänen. Die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff meldete rechtliche Bedenken an. Auch in den Ländern gibt es noch Gesprächsbedarf.
Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Ressortchef Roger Lewentz (SPD), sagte, über einen Einsatz der Bundesbehörde in den Ländern sei noch zu reden. De Maizière (CDU) hielt dagegen, es habe eine enge Abstimmung mit den Ländern zu dem Vorhaben gegeben.
Die Datenschutzbeauftragte Voßhoff äußerte erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken angesichts der verstärkten Informationsweitergabe und Datenspeicherung zwischen Bund und Ländern. Auch dies wies de Maizière zurück. In seinem Ministerium ist von einer „Lockerung des Datenschutzes“ und einer „maßvollen Erweiterung der Datensätze“ die Rede.
Für den Einsatz von V-Leuten – also Mitgliedern einer Szene, die dem Verfassungsschutz regelmäßig Informationen liefern – werden im Gesetz Regeln festgeschrieben. Wer etwa zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, scheidet als Quelle für das Bundesamt aus. Es soll auch nicht so sein, dass V-Leute von ihrer Informantentätigkeit leben können. Geregelt wird auch, dass diese Quellen bei kleineren Delikten von einer Strafverfolgung verschont werden können – etwa beim Zeigen des Hitler-Grußes oder Verstößen gegen das Vermummungsverbot. Bei V-Leuten handele es sich „oft auch um Menschen, mit denen man sonst nicht so gerne zusammenarbeiten möchte“, räumte de Maizière ein. Für Einblicke in extremistische Milieus seien sie aber „unverzichtbar“.
Auf Skepsis stieß die Sonderregelung für V-Leute beim Koalitionspartner SPD. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir damit einverstanden sind“, sagte Parlamentsgeschäftsführerin Christine Lambrecht. Die SPD werde sich die Bestimmungen zu milieubedingten Straftaten wie den Hitlergruß bei Neonazis noch einmal anschauen.
De Maizière sagte, mit der Reform würden Lehren aus festgestellten Defiziten gezogen. Das System des Verfassungsschutzverbundes sei nicht gescheitert. Es habe nur Mängel. Linke und Grüne beklagten, der Bund ziehe die falschen Konsequenzen. Ausgerechnet die Institution werde nun gestärkt, die bei den NSU-Morden versagt hatte: der Verfassungsschutz.
Deutlich kritisierte de Maizière die Entscheidung Thüringens, künftig ganz auf V-Leute zu verzichten. Auch aus anderen Bundesländern kam Kritik. Nachahmer des Thüringer Weges sind nicht in Sicht. Die meisten Innenminister der Länder halten die Zusammenarbeit mit V-Leuten für unverzichtbar. Die Thüringer Entscheidung diene „nicht dem Kampf gegen Extremismus in Deutschland“, sagte der Minister. Die möglichen Konsequenzen aus dem Thüringer Schritt für den Verbund der Verfassungsschutzbehörden in Deutschland seien nun im Kreis der Innenminister zu erörtern.
„Wer sich in einem Verbund bewegt, der muss geben und nehmen. Man kann nicht immer nur nehmen“, so de Maizière. Rosinenpickerei könne es nicht geben. Auf die Frage, ob Thüringen womöglich von seinem Weg abzubringen sei, sagte der Ressortchef, er glaube an die Kraft der Argumente. Linke und Grüne wollen V-Leute abschaffen. Der Verfassungsschutz bedürfe „eines völligen Neustarts, möglichst ohne die unzuverlässigen V-Leute“, erklärte der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.