Er wollte Bundespräsident aller Deutschen sein – und wirkte durch seine Worte. Unvergessen seine Charakterisierung des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ – nun ist Richard von Weizsäcker gestorben.
Berlin. Einer der bedeutendsten deutschen Politiker der Nachkriegszeit ist tot: Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist am Sonnabend im Alter von 94 Jahren gestorben. „Wir verlieren einen großartigen Menschen und ein herausragendes Staatsoberhaupt“, schrieb Bundespräsident Joachim Gauck in einem Kondolenzschreiben an die Witwe Marianne Freifrau von Weizsäcker.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach im Kanzleramt von großer Trauer. „Wie er von 1984 bis 1994 sein Amt als Bundespräsident ausgeübt hat, das hat Maßstäbe gesetzt.“ Er habe seinen Intellekt, seine Würde und die Fähigkeit zur klugen Rede jahrzehntelang in den Dienst der Demokratie gestellt. „Der Tod Richard von Weizsäckers ist ein großer Verlust für Deutschland“, sagte Merkel. „Richard von Weizsäcker war eine der wichtigsten und geachtetsten Persönlichkeiten unseres Landes.“ Gauck würdigte seinen Vorgänger als „moralische Instanz“.
Der CDU-Politiker war von 1984 bis 1994 sechster Bundespräsident – er beeinflusste mit wegweisenden, visionären Reden das politische Klima in Deutschland. Nach seinem Amtsantritt hatte er versprochen, „Präsident aller Bürger“ sein zu wollen. Als besonderer Markstein gilt die Rede vom 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, in der er sich ohne Beschönigung mit den Verbrechen der Nazi-Zeit auseinandersetzte – und von Befreiung statt Niederlage sprach.
„Der 8. Mai 1945 ist ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, sagte er damals vor dem Deutschen Bundestag.
Engagement für ein friedliches Europa
Von Weizsäcker scheute nicht vor Konflikten mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) zurück. Gemeinsam feierten sie am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit im wiedervereinigten Berlin. Die in der DDR aufgewachsene Merkel sagte zu von Weizsäckers Rede an dem Tag: „Ich werde nie seine Ansprache am 3. Oktober 1990 vergessen, und meinen inneren Jubel, als er sagte: „So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte – die Geschichte hat es dieses Mal mit uns Deutschen gut gemeint.““
Vor der Bundespräsidentenzeit war der 1920 in Stuttgart geborene von Weizsäcker unter anderem Regierender Bürgermeister von Berlin (1981 bis 1984). Von 1969 bis 1981 war der promovierte Jurist Mitglied des Deutschen Bundestages. Zudem war er zweimal Präsident des Evangelischen Kirchentages (1964 bis 1970 und 1979 bis 1981).
Aus der Erfahrung von Krieg und Gewaltherrschaft sei sein Engagement für ein friedliches und vereintes Europa erfolgt, sagte Gauck. Von Weizsäcker habe die Freundschaft mit den Partnern im Westen vertieft und die Verständigung mit den Völkern im Osten gesucht. „Schon früh sah er in der Überwindung der Spaltung Europas die einzige Möglichkeit zur Überwindung der Spaltung Deutschlands.“
Würdigung als Wegweiser unserer Zeit
Im Schloss Bellevue wurde ein Kondolenzbuch ausgelegt, in das sich Bürger eintragen können. Am Bonner Amtssitz, der Villa Hammerschmidt, ist dies am Montag von 10 bis 18 Uhr möglich. Spitzen von Politik und Gesellschaft würdigten ihn als Wegweiser in wichtiger Zeit.
Frankreichs Staatspräsident François Hollande lobte, von Weizsäcker habe durch seine persönliche Geschichte, sein politisches Engagement und seine moralische Haltung die Geschichte seines Landes geprägt.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) würdigte den Gestorbenen als „zentrale Identifikationsfigur“. In dem Leben spiegele sich fast ein ganzes Jahrhundert deutsche und europäische Geschichte wider. „In seine unvergessene Amtszeit fielen mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges weltbewegende Ereignisse.“ Dieser Aufbruch in ein Zeitalter von Frieden und Freiheit in Europa sei untrennbar auch mit seinem Namen verbunden.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, betonte: „Wir blicken voller Dankbarkeit auf das Leben von Richard von Weizsäcker, auf dem so viel Segen gelegen hat und von dem so viel Segen ausgegangen ist.“
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, erklärte, von Weizsäcker sei auf die Menschen zugegangen, „um ihre Hoffnungen und Ängste der Wiedervereinigung zu verstehen“.
SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel betonte: „Richard von Weizsäcker hatte die Gabe und den Intellekt, den Menschen Orientierung zu geben und Deutschland in der Welt würdig zu vertreten.“ Seine Einordnung des 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung „hat das Geschichtsverständnis der Deutschen nachhaltig beeinflusst“.
CSU-Chef Horst Seehofer sagte: „Als Bundespräsident war es Richard von Weizsäcker ein großes Anliegen, „Präsident aller Bürger“ zu sein, und genau das war er. Er war eigenständig und überparteilich und prägte damit das Bild eines idealen Staatsoberhaupts.“ Deutschland verliere „einen der ganz großen Deutschen der Nachkriegsgeschichte“.
Linken-Fraktionschef Gregor Gysi sagte: „Er war ein Mann der hohen politischen Kultur, die wir auch heute noch dringend benötigen.“
Die Grünen sprachen vom „großen Staatsmann und Intellektuellen“. „Seine moralische Integrität wird uns allen fehlen“, teilten die Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt mit.