Die türkische Führung hat nun einen Blankoscheck für Militäreinsätze in Syrien. Einen Krieg will Ankara aber um jeden Preis vermeiden.
Ankara/Istanbul. Nach dem Granatenangriff auf ein Grenzdorf hat die türkische Regierung jetzt freie Hand für Militäreinsätze im Nachbarland Syrien. Das Parlament in Ankara erlaubte der Regierung am Donnerstag für ein Jahr Einsätze auch über die Grenze hinweg. Das Nato-Land Türkei griff einen Tag nach der Attacke aus Syrien als Vergeltung weitere Ziele an. Nach Angaben eines ranghohen Beraters von Premier Recep Tayyip Erdogan soll es aber keinen Krieg geben. Syrien konnte sich zunächst nicht zu einer offenen Entschuldigung durchringen. Der UN-Sicherheitsrat bereitete eine Erklärung vor.
Die aserbaidschanische Delegation habe dazu bereits am Mittwoch einen Entwurf vorgelegt, über den sich das Gremium aber zunächst nicht habe einig werden können, sagte die US-Botschafterin Susan Rice am Donnerstag in New York. „Heute morgen hat eine Delegation Änderungseinträge eingebracht, von denen die meisten von der Mehrheit des Rats als nicht akzeptabel angesehen werden.“ Rice sagte nicht, um welche Delegation es sich handelt. Aus westlichen Diplomatenkreisen wurde aber bekannt, dass Russland, das schon öfter mit Vetos scharfe Resolutionen gegen Syrien verhindert hatte, sich querstellt.
Offiziell standen am Donnerstag im Sicherheitsrat Beratungen über die Situation im Sudan und Südsudan sowie in Mali an. Am Rande der Beratungen werde aber intensiv über den Entwurf der Erklärung zum Grenzkonflikt diskutiert, sagte Rice. Wie die Erklärung aussehen werde, könne sie noch nicht sagen. Sie forderte aber, dass der Rat den syrischen Angriff „klar und eindeutig“ verurteilen müsse.
Die Situation blieb angespannt. Am Mittwoch waren im türkischen Akcakale nahe der syrischen Grenze eine Mutter und ihre vier Kinder von Granaten getötet worden. Wenige Stunden später beschoss die Türkei erstmals Ziele im Bürgerkriegsland Syrien. Bei den Angriffen starben nach Informationen von Al-Dschasira insgesamt 34 Menschen. Der arabische Sender berief sich auf syrische Quellen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und andere Politiker weltweit mahnten beide Länder zur Besonnenheit. Zwischen Damaskus und Ankara, das sich offen auf die Seite der syrischen Aufständischen stellt, herrscht spätestens seit dem Abschuss eines türkischen Militärjets im Juni Eiszeit. Die Türkei gewährt knapp 100 000 syrischen Flüchtlingen Zuflucht und hat entlang der Grenze massiv aufgerüstet.
„Die Türkei hat kein Interesse an einem Krieg mit Syrien. Aber die Türkei ist in der Lage, ihre Grenzen zu schützen und wenn nötig zurückzuschlagen“, erklärte Erdogan-Berater Ibrahim Kalin über den Kurznachrichtendienst Twitter. Vizeregierungschef Besir Atalay betonte, das Parlamentsmandat sei „kein Freibrief für einen Krieg“. Die Erlaubnis, gegebenenfalls anzugreifen, diene der Abschreckung.
Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu zitierte Atalay außerdem mit den Worten, die syrische Führung habe im Kontakt mit den Vereinten Nationen ihr Bedauern ausgedrückt und versichert, „eine solche Sache werde von nun an nicht mehr passieren“. Eine direkte Entschuldigung sei bisher allerdings nicht eingegangen, hieß es aus dem Außenministerium auf Anfrage.
Zuvor hatte der syrische Informationsminister Omran al-Subi eine Untersuchung des Angriffs angekündigt und dem türkischen Volk sein Beileid ausgedrückt.
Wie türkische Medien berichteten, forderte die Regierung in Ankara den UN-Sicherheitsrat auf, die aggressive Haltung Syriens zu beenden. Auch die Vetomacht Frankreich setzte sich dafür ein, den Angriff mit aller Entschiedenheit im Rat zu verurteilen. Aus westlichen Diplomatenkreisen in New York hieß es am Donnerstag, eine öffentliche Erklärung sei in der Abstimmung. Es gebe aber noch Unstimmigkeiten.
+++ Eskaliert der Syrien-Konflikt jetzt international? +++
Die Nato nannte den syrischen Angriff nach einer eilig einberufenen Sondersitzung der Nato-Botschafter einen flagranten Bruch internationalen Rechts und eine Sicherheitsbedrohung für den Verbündeten Türkei. Die Allianz beobachte die Situation sehr genau, teilte das Bündnis am späten Mittwochabend in Brüssel mit.
Kanzlerin Merkel rief alle Beteiligten auf, sich zurückzuhalten. Besonnenheit sei das Gebot der Stunde. Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) drang auf einen „angemessenen Umgang mit dieser sich verschärfenden Lage“.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte beide Seiten auf, die Gewalt einzustellen und sich um eine politische Lösung zu bemühen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton warnte vor einer Eskalation. Russland, das Syrien zu einer Entschuldigung aufgerufen hatte, appellierte an beide Länder, Grenz- und Flüchtlingsfragen direkt miteinander zu besprechen. Die USA sagten der Türkei ihre Unterstützung zu.
Für die Billigung der Militäreinsätze war das türkische Parlament zu einer Sondersitzung zusammengekommen. Eine vergleichbare Regelung gibt es bereits für den Nordirak, wo die Armee die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK bekämpft. Kritik kam vor allem von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP.
Der derzeitige Konflikt mit Syrien berechtigt nicht zum kostenlosen Stornieren von Türkeireisen. „Die Urlaubsregionen sind nicht betroffen“, sagte Reiserechtler Paul Degott dem dpa-Themendienst. Auch das Auswärtige Amt habe bislang keine Reisewarnung für die Türkei ausgegeben.
Im Bürgerkriegsland Syrien bekannte sich am Donnerstag eine dem Terrornetzwerk Al-Kaida nahestehende Gruppe zu den blutigen Anschlägen von Aleppo. Bei der Bombenserie waren tags zuvor nach Angaben des Innenministeriums 34 Menschen getötet und 122 verletzt worden. Damaskus forderte den UN-Sicherheitsrat auf, Täter und Hintermänner in einer offenen Erklärung zu verurteilen.
Bei Kämpfen am Donnerstag gab es nach Aktivistenangaben landesweit mindestens hundert Tote, darunter viele Zivilisten. Bei Gefechten in der Nähe der Hauptstadt Damaskus wurden laut Opposition mindestens 21 Mitglieder der Präsidentengarde getötet.
In Straßburg forderte der Europarat seine 47 Mitgliedsländer und die syrischen Nachbarn auf, ihre Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Die internationale Gemeinschaft solle alles tun, um den Flüchtlingen einen offiziellen Status zu gewähren, hieß es in einer Entschließung, die fast einstimmig angenommen wurde.