In einem Geheimbericht fordert der US-General Stanley McChrystal, die Truppen in Afghanistan aufzustocken. Andernfalls drohe ein Scheitern.
Kabul/Washington/Berlin. Droht den Nato-Truppen in Afghanistan eine schwere Niederlage. Ihr Chef, Nato-Kommandeur Stanley McChrystal, sorgte am Montag mit ungewöhnlichen Worten weltweit für Aufmerksamkeit. Der US-General sieht den Einsatz am Hindukusch nämlich vom Scheitern bedroht. Um die der neuen ISAF-Strategie der Aufstandsbekämpfung umzusetzen, seien mehr Soldaten nötig, heißt es in einer von der „Washington Post“ und der „New York Times“ veröffentlichten Lageeinschätzung McChrystals für US-Verteidigungsminister Robert Gates. Sollte in den kommenden zwölf Monaten keine Trendwende erreicht werden können, riskiere man „ein Ergebnis, bei dem ein Sieg über den Aufstand nicht länger möglich ist“. McChrystal ist der Kommandeur der Internationalen Schutztruppe ISAFund der US-Truppen in Afghanistan. „Unzureichende Kräfte werden vermutlich zu einem Scheitern führen.“ Für McChrystal ist dies „eine wichtige – und vermutlich entscheidende – Phase dieses Krieges“.
Das Weiße Haus erwartet nun eine konkrete Truppenanforderung des Militärs. Zunächst habe eine solche Anfrage aber nicht vorgelegen, sagte Regierungssprecher Robert Gibbs am Montag. Die Lage werde derzeit geprüft. Daraus würden „in einigen Wochen Optionen für eine Truppenaufstockung“ folgen. „Eine spezifische Anfrage für zusätzliche Kräfte ist das, was danach kommt“, sagte Gibbs.
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour forderte, die Bundesregierung solle „jetzt sofort die Karten auf den Tisch legen und offen sagen, wie die weitere deutsche Beteiligung an der ISAF- Mission aussehen soll“. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte erneut an, Deutschland werde künftig die Ausbildung von Polizisten und Soldaten stärker vorantreiben. Ziel sei, die Verantwortung der afghanischen Sicherheitsbehörden zu stärken, sagte sie dem Radiosender NDR-Info. „Wichtig ist, dass wir das Ziel erreichen. Wir können nicht (...) kopflos aus Afghanistan abziehen und anschließend Unsicherheit dort hinterlassen.“ Zu einer möglichen erneuten Aufstockung des Bundeswehrkontingents äußerte sie sich nicht.
Zu der von Betrugsvorwürfen überschatteten Präsidentschaftswahl in Afghanistan sagte Merkel: „Wir müssen davon ausgehen, dass es in bestimmten Teilen Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Ich vertraue da voll auf die Bewertung dieser internationalen Wahlbeobachter. Und dem wird auch der afghanische Präsident sich nicht entziehen können.“
McChrystals kritisiert die afghanischen Regierung scharf. Weit verbreitete Korruption, Machtmissbrauch durch Regierungsvertreter, aber auch Fehler der ISAF hätten den Afghanen wenig Grund gegeben, ihre Regierung zu unterstützen. Die ISAF-Truppen müssten verstärkt werden, da die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) noch nicht in der Lage seien, den Kampf anzuführen. „Der Status quo wird zu einer Niederlage führen, wenn wir darauf warten, dass die ANSF wachsen.“ McChrystal spricht sich für einen schnelleren und mit insgesamt 400000 Soldaten und Polizisten deutlich stärkeren Aufbau der ANSF aus, als bisher geplant. Zur ISAF meint der Kommandeur, sie beschäftige sich zu sehr mit dem Schutz der eigenen Soldaten.
Das Bundesverteidigungsministerium wollte sich unterdessen auch zu neuen Vorwürfen gegen den für den Luftangriff am 4. September in Afghanistan verantwortlichen Bundeswehr-Oberst nicht äußern. Sprecher Thomas Raabe verwies auf den noch ausstehenden Untersuchungsbericht der NATO. Bei dem Luftangriff auf zwei von Taliban entführte Tanklastwagen wurden laut afghanischen Untersuchungen 99 Menschen getötet, darunter 30 Zivilisten. Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) hatte erkennen lassen, dass die Bundesregierung zivile Opfer und ihre Angehörigen entschädigen wird. Nach einem „Spiegel“-Bericht hatte der betroffene Oberst es angeblich abgelehnt, die F-15-Jagdbomber als Warnung für die Menschen zunächst im Tiefflug über die Lastwagen donnern zu lassen.
Somit habe er eine Eskalationsstufe ausgelassen, die nach den NATO-Regeln dem Bombardement vorangehen müsse. Zudem hätten die US-Piloten zweimal gefragt, ob die deutschen Truppen Feindberührung hätten. Dies sei bestätigt worden, obwohl die Bundeswehr offensichtlich nicht ausgerückt war, um die Lage zu erkunden. Ähnlich hatte zuvor die „Financial Times Deutschland“ berichtet. Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan hatte vorige Woche mit Blick auf den noch ausstehenden NATO-Bericht gesagt: „Wir müssen uns (...) darauf einstellen, dass dabei Einzelheiten festgestellt werden, die von uns weitere Antworten verlangen.“