Weltweit werden Gaddafis Milliarden eingefroren. Gaddafi-Sohn negiert Luftangriffe. Aufständische gründen Militärrat in Bengasi.
Tripolis/Brüssel/Berlin/London. Die UN-Vollversammlung hat Libyen aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ausgeschlossen. Das Gremium reagierte damit am Dienstag auf die anhaltende Gewalt der Führung von Muammar al-Gaddafi gegen die Bevölkerung des nordafrikanischen Landes. Der UN-Menschenrechtsrat hatte sich am Freitag für einen Ausschluss Libyens aus seinen Reihen ausgesprochen.
Auch weitere internationale Sanktionen gegen al-Gaddafi beginnen zu greifen. Deutschland sperrte am Dienstag erstmals ein Konto der Gaddafi-Familie, zuvor froren bereits die USA Milliarden-Guthaben der libyschen Führungsriege ein. In der Küstenmetropole Bengasi gründeten die Aufständischen einen Militärrat, während sich an der Grenze zu Tunesien die Situation der Flüchtlinge dramatisch verschärfte.
Einen Tag nach dem Beschluss von EU-weiten Sanktionen ließ die Bundesregierung bei einer deutschen Privatbank zwei Millionen Euro eines Gaddafi-Sohnes sperren. Das Wirtschaftsministerium erklärte, die Sperrung solle sicherstellen, dass das Vermögen nicht vor Inkrafttreten der Sanktionen abfließt. Die USA sperrten am Montag Guthaben des Gaddafi-Clans in Höhe von 30 Milliarden Dollar (knapp 22 Milliarden Euro). Auch Österreich sperrte sämtliche Vermögenswerte der Familie. Nach Angaben der Zentralbank liegen in Österreich mehr als 1,2 Milliarden Euro.
Westerwelle: Druck auf Gaddafi aufrecht erhalten
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte in Berlin, den „Druck“ auf Gaddafi aufrecht zu erhalten. Zurückhaltend zeigte sich Westerwelle jedoch bei der Frage einer Flugverbotszone: Es dürfe nicht der Eindruck einer westlichen Einmischung entstehen, außerdem sei der Luftraum wegen der Größe Libyens nur mit großem Aufwand zu überwachen.
Mehrere ausländische Politiker haben wegen der Gewalt in Libyen eine Flugverbotszone ins Gespräch gebracht, um Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung zu verhindern. Frankreichs neuer Außenminister Alain Juppé betonte, dass eine Flugverbotszone nur mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrats möglich wäre. Der für Libyen zuständige US-General James Mattis warnte, dass ein Flugverbot erst nach Ausschaltung der libyschen Luftabwehr möglich wäre.
Einer der Söhne al-Gaddafis hat am Dienstag Vorwürfe zurückgewiesen, die Luftwaffe habe Angriffe gegen demonstrierende Zivilisten geflogen. Libyen werde Ermittler aus egal welchem Land willkommen heißen, um die jüngsten Ereignisse zu untersuchen, sagte Saif al Islam Gaddafi in einem Interview des britischen Fernsehsenders Sky News. Den Vereinten Nationen, den USA und Großbritannien warf er vor, sich in die internen Angelegenheiten seiner Heimat einzumischen. Das libysche Volk sei vereint, betonte der Gaddafi-Sohn. Es gebe keinerlei Beweise dafür, dass Zivilisten beschossen worden seien, sagte Saif al Islam Gaddafi in dem in Tripolis geführten Interview.
Gaddafi-Sohn soll Doktorarbeit gefälscht haben
Derweil droht einem weiteren Sohn al-Gaddafis eine Plagiatsaffäre - im Gegensatz zu Deutschlands Verteidigungsminister zu Guttenberg scheinen Konsequenzen in diesem Fall eher unwahrscheinlich: Saif al-Islam, 38 Jahre alter Sohn des lybischenn Staatschefs, sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, seine Dissertation an der London School of Economics (LSE) soll von einem Ghostwriter verfasst worden sein, berichtete am Dienstag die BBC. „Die London School of Economics nimmt alle Plagiatsvorwürfe sehr ernst und sieht sich den Fall an, entsprechend ihrer Standards“, hieß es am Dienstag in einem Statement der Hochschule.
Der Gaddafi-Sohn hatte in den Jahren 2003 bis 2008 in London studiert, als Master of Science abgeschlossen und auch die Doktorwürde erhalten. 2009 hatte die renommierte Universität 300 000 Pfund von einer Spende in Höhe von insgesamt 1,5 Millionen Pfund von der Gaddafi-Familie angenommen. Der Leiter der Hochschule, Howard Davies, hatte bereits vor einigen Tagen erklärt, dies sei ihm heute peinlich.
Nur noch Tripolis und Westen unter Gaddafis Kontrolle
Unterdessen kontrollierte Muammar al-Gaddafi zu Beginn der dritten Woche des Volksaufstandes nur noch die Hauptstadt Tripolis und einen Teil Westlibyens. Seine Macht ist ernsthaft bedroht, seitdem die Aufständischen auch die Ölfelder unter ihre Kontrolle gebracht haben.
In Bengasi verkündete die Opposition die Gründung eines Militärrats, der die militärischen Kräfte gegen Gaddafi organisieren soll und Freiwillige nach Tripolis schickt, um dort den Volksaufstand zu unterstützen. Von einem Marsch auf die Hauptstadt nahm die Militärführung der Opposition jedoch Abstand.
In Misrata sollen Gaddafi-Anhänger mindestens zwei Menschen erschossen haben, während die Aufständischen in Sawijah offenbar einen Gegenangriff regierungstreuer Truppen verhinderten. Nach der Flucht zehntausender Menschen ins benachbarte Tunesien warnte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR vor einer humanitären Katastrophe an der Grenze. Die Situation habe „den Krisenpunkt erreicht“. Allein am Montag seien 14.000 Menschen nach Tunesien geflohen. Wie Augenzeugen berichteten, verstärkten regierungstreue Soldaten am Dienstag ihre Präsenz an der Grenze, von der sie sich am Sonntag zurückgezogen hatten.
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Die Libyer zittern – und Gaddafi gibt Interviews
Die Flüchtlingslage in Libyen verschärft sich, die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten kommen am 11. März zu einem Libyen-Sondergipfel zusammen. Es wird international um eine Flugverbotszone, um den Rücktritt und eine Flucht des Diktators und „Revolutionsführers“ Muammar al-Gaddafi gerungen. Und Gaddafi selbst gibt Interviews und lässt Journalisten auf Touren durch die Hauptstadt Tripolis führen. Eine Propagandaschlacht sondergleichen. „Sie lieben mich, mein ganzes Volk steht zu mir, sie lieben mich“, sagte Gaddafi in einem Gespräch mit westlichen Journalisten.
Der Termin zum Krisengipfel der EU bot sich an, weil sich am selben Tag bereits die Chefs der 17 Euro-Länder in der EU-Hauptstadt treffen. Sie wollen über ein Reformpaket für den Euro beraten. Der Sondergipfel werde von der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und dem ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy vorbereitet, hieß es. Der EU war in den vergangenen Wochen ein zögerliches Handeln im Hinblick auf die Unruhen in Nordafrika vorgeworfen worden. So konnten sich die 27 Staaten erst nach mehreren Tagen auf Sanktionen gegen das Regime von Gaddafi einigen. Auch in der Flüchtlingspolitik fanden die Staaten keine gemeinsame Linie. Vor allem Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy hatte sich für einen Sondergipfel eingesetzt.
Ein gutes Omen: Auch Ägyptens verhasster Herrscher Hosni Mubarak hatte dem US-Fernsehsender ABC und Starreporterin Christiane Amanpour ein Interview gegeben – kurz bevor er seinen Palast räumte.
Nach dem Beschluss der Europäischen Union zu umfangreichen Sanktionen gegen Libyens Herrscherfamilie hat Deutschland das Konto eines Gaddafi-Sohnes eingefroren. Das sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) und betonte, damit setze die Bundesregierung ein klares Signal, dass die Sanktionen nicht nur theoretisch beschlossen, sondern auch unverzüglich umgesetzt würden. Er verlangte, jetzt müsse der Druck aufrechterhalten werden und bekräftigte seine Forderung, sämtliche geschäftliche Zahlungen für 60 Tage auszusetzen, damit kein frisches Geld in die Hände der libyschen Regierung gelangen könne, das wiederum dafür eingesetzt werde, Söldner anzuheuern und einen Bürgerkrieg gegen das eigene Volk zu führen. Westerwelle versicherte: „Wir wollen mit diesen Sanktionen nicht das libysche Volk treffen.“ Es gehe um den Diktator, der sein Amt aufgeben müsse.
Der Außenminister sprach sich ferner für die Benennung eines Sondergesandten der Vereinten Nationen für Libyen aus, bei dem das Engagement der internationalen Staatengemeinschaft gebündelt werde. Dieser könne auch die humanitäre Leistungen koordinieren. Nach Angaben Westerwelles sind derzeit schätzungsweise noch 46 Deutsche in Libyen, davon 36 in Tripolis. Krisenstab und Botschaft stünden mit ihnen in Kontakt. Die Deutschen seien erneut dringend aufgefordert worden, das Land soweit es möglich erscheine, zu verlassen.
Die Einrichtung einer Flugverbotszone bewertete Westerwelle zurückhaltend. Das sei eine mögliche Option. Allerdings müssten noch viele ausländische Staatsbürger über den Luftweg aus Libyen herausgeholt werden. Auch die Größe des Landes ziehe praktische Probleme nach sich. Zudem dürfe bei der dortigen Bevölkerung auf keinen Fall der Eindruck entstehen, als handele es sich um eine beabsichtigte militärische Intervention, was der „Propaganda des Diktators“ Vorschub leisten könnte. Über einen Einsatz der Bundeswehr in Libyen wollte er nicht „spekulieren“.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Möglichkeit einer Flugverbotszone über Libyen ausgeschlossen. Eine solche Idee sei „überflüssig“, sagte Lawrow. Wichtiger sei „die vollständige Umsetzung der Sanktionen“ gegen das Land. Die USA, Australien und mehrere europäische Regierungen hatten ein Flugverbot vorgeschlagen, um zu verhindern, dass Gaddafi sein eigenes Volk bombardiere. Ein solches Flugverbot wird seit Jahren erfolgreich im Norden des Irak angewendet. Ohne die Zustimmung der Veto-Macht Russland ist der Beschluss einer Flugverbotszone über Libyen im Uno-Sicherheitsrat nicht möglich.
Mehr als 140.000 Menschen sind nach Uno-Angaben vor der Gewalt in Libyen nach Tunesien und Ägypten geflohen. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnte vor einer humanitären Katastrophe. Die Nachbarländer Ägypten und Tunesien seien mit dem anschwellenden Flüchtlingsstrom immer stärker überfordert. Das UNHCR berichtete auch von brutalen Menschenjagden innerhalb Libyens auf Zuwanderer aus anderen afrikanischen Ländern und dem Nahen Osten.
„Wir erleben ganz klar eine sich verschärfende humanitäre Krise“, sagte UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming. Täglich flüchteten bis zu 15.000 Männer, Frauen und Kinder vor den Kämpfen zwischen Truppen des Diktators Gaddafi und Oppositionskräften. Tausende Flüchtlinge warteten Tag und Nacht an den libyschen Grenzen zu Tunesien auf Hilfe und Weitertransport. In Ägyptens Grenzregion zu Libyen warteten ebenfalls Tausende Menschen unter widrigen Umständen auf ihre Weiterreise. Bei den meisten Flüchtlingen handele es sich um Migranten aus Ägypten und Tunesien, die in Libyen beschäftigt waren.
Das UNHCR berichtete auch von brutalen Menschenjagden innerhalb Libyens auf mehr als 11.000 wehrlose Migranten. Viele dieser Menschen aus Eritrea, Somalia, dem Tschad, dem Sudan, den Palästinensergebieten und dem Irak würden von Libyern attackiert. Auch von Tötungen sei die Rede. Libyer betrachteten besonders die Menschen aus Schwarzafrika fälschlicherweise als Söldner Gaddafis. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage könne das UNHCR den Angegriffenen nicht zur Hilfe eilen. Die Menschen hätten keine Chance sich aus Libyen abzusetzen.
Ein Ärzte-Team des Deutschen Roten Kreuzes sollte nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) bis Mittwoch in der Stadt Bengasi im Osten des Landes eintreffen. In den Krankenhäusern der Stadt müssten mehr als 2000 Verwundete behandelt werden. Ein norwegisches Medizinerteam habe in Bengasi bereits seine Arbeit aufgenommen. Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation warteten seit Tagen in Tunesien auf ihren Transport nach Libyen. Nach Angaben des Roten Kreuzes steckt auch ein finnisches Ärzteteam an der tunesisch-libyschen Grenze fest.
Mit Material von dpa/dapd/rtr/epd/afp