Das Abendblatt berichtete ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September 2001, wie die Hamburger die Tage des Terrors erlebten und was geschah, als die Spuren der Attentäter auch nach Hamburg führten.
Mittwoch, 12. September, gegen 20.30 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Im vierten Stock des Präsidiums sitzt Kriminaloberrat Martin Bähr (damals 42), stellvertretender Staatsschutzchef, in seinem Büro. Vor sich Computer und Laptop, dazu läuft der Fernseher. Auf dem Kopf hat er ein so genanntes Headset, um frei telefonieren zu können. Gegen den Hunger bestellt sich Bähr eine Pizza. Er wird in dieser Nacht wieder das Rauchen anfangen.
Bei Bähr laufen die Ergebnisse der Abfragen beim Einwohnermeldeamt und dem Ausländerzentralregister zusammen. Es wird geprüft, wer noch außer Mohammed Atta jemals in der Wohnung Marienstraße 54 gemeldet war - und wer davon noch in Hamburg wohnt. Die Computer spucken weitere Namen und Adressen aus. Da gibt es zum Beispiel einen Said Bahaji. Er ist jetzt in der Straße Bunatwiete 23 gemeldet. Und es taucht die Wilhelmstraße 30 auf, dort soll ein Marwan Al Shehhi wohnen. Bei Bähr laufen auch erste "bruchstückhafte Informationen" vom Verfassungsschutz auf. Von Berlin aus macht sich ein BKA-Beamter auf den Weg. Der Islam-Experte rast mit Blaulicht über die A 24 Richtung Hamburg.
12. September, kurz nach 21 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Bähr informiert LKA-Chef Gerhard Müller (49). Der bespricht sich kurz mit Staatsschutz-Chef Bodo Franz (49), dann wird das Mobile Einsatzkommando (MEK) alarmiert. Das etwa 100 Mann starke MEK ist die Polizeitruppe, die gerufen wird, wenn es in Hamburg hart auf hart kommt: bei Geiselnahmen, Banküberfällen, wenn Schusswechsel drohen. Alle ausgebildet auch im Anti-Terror-Kampf.
12. September, 21.10 Uhr, Marienstraße 54, Harburg
Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel (damals 45) vom Staatsschutz tastet sich langsam im Schein seiner Taschenlampe in die 58-Quadratmeter-Wohnung des Terrorpiloten Mohammed Atta vor. Links ein leeres Zimmer, rechts ein leeres Zimmer, geradeaus das Bad. Die Tür ist offen. Die Wände sind frisch geweißt. Der Boden blank. Es riecht noch ein wenig nach Putzmittel. In der Küche macht Jäkel die Schränke auf - leer. Er holt die Kollegen von der Spurensicherung rein.
12. September, 21.15 Uhr, nördlich von Hamburg
Bei Polizeioberrat Thies Rohweder (39) klingelt das Telefon. Einsatzalarm! Der MEK-Chef springt in seinen roten C-Klasse-Mercedes. Er fährt nach Alsterdorf ins Präsidium. Dort weist ihn Staatsschützer Bähr in die Lage ein. Rohweder, ein hochaufgeschossener, sportlicher Mann, begreift sofort: "Das ist ein dicker Hund."
12. September, 22.00 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Ab jetzt ist ein Führungsstab im ersten Stock des Präsidiums eingerichtet, der ab sofort die Koordinierung der Einsätze übernimmt. Leiter ist LKA-Chef Gerhard Müller (49). Anwesend sind auch Innensenator Olaf Scholz (SPD, 43), Innenstaatsrat Dirk Reimers (58) und Polizeipräsident Justus Woydt (61). Auch der Sprecher von Scholz, Christoph Holstein (37), ist da - im Freizeitlook, einem T-Shirt mit der Aufschrift "Victoria Falls, Zimbabwe". Er war nämlich zu Hause alarmiert worden, als er sich gerade Bratkartoffeln machte. Die ließ er stehen.
12. September, 22.19 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Beim Führungsstab der Polizei läuft ein neues Fax ein. Es stammt von der amerikanischen Botschaft in Berlin, Clayallee 170, lief zunächst bei der BKA-Zweigstelle in Meckenheim bei Bonn auf. Da sitzt die Abteilung "Ausländische Terroristen". Das Fax wurde von dort sofort nach Hamburg weitergeleitet. Das sechsseitige Dokument (Aktenzeichen: 265D-NY-280350) fasst die ersten Ermittlungen der amerikanischen Bundespolizei FBI zusammen, enthält die Namen der mutmaßlichen Attentäter beim "Twin Towers Bombing". Auf Seite 2 taucht erstmals der Name Mohammed Atta auf - mit seiner Flugticketnummer, der Nummer seiner Kreditkarte (Visa 401 180 084 077 78, gültig bis Juli 2002) und seinem Sitzplatz 8D in der Boeing 767 der American Airlines, die um 8.45 Uhr am Tag zuvor in den Nordturm des World Trade Center gerast war.
Als zwölfter Name auf der Liste: Marwan Al Shehhi (Boeing 767, Flug United Airlines 175, die in den Südturm geflogen worden war). Von ihm hatten die FBI- Ermittler einen Führerschein (A 420 540 781 690, gültig bis September 2007) entdeckt. Und zwar in Florida, wo er eine Flugschule besucht hatte. Es gebe Hinweise, dass Atta und Al Shehhi vor ihrer Einreise in die USA in Deutschland gelebt hätten. Als 23. Name taucht der Name Ziad Jarrah auf. Laut Fax hatte er in der Maschine gesessen, die in Pennsylvania abgestürzt war. Am Ende des Faxes steht: "Wir sind besonders daran interssiert, mehr über Mohammed Attas und Marwan Al Shehhis Aktivitäten und Verbindungen zu erfahren."
12. September, 22.29 Uhr, Harburg
Polizeioberrat Thies Rohweder ist mit seinem MEK in Stellung gegangen. Aufklärungstrupps schleichen sich an die Häuser Wilhelmstraße 30 und Bunatwiete 23. Am Objekt Wilhelmstraße ist alles dunkel. In der verdächtigen Wohnung an der Bunatwiete brennt ein "schummeriges Licht", berichtet Rohweder an den Führungsstab. Der entscheidet: noch kein Zugriff.
12. September, 22.54 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Die Computer haben ganze Arbeit geleistet, noch mehr Details ausgespuckt über die Mieter der Marienstraße 54 - die meisten waren Studenten an der TU Harburg. Im Führungsstab herrscht gespenstische Stille. Alle wissen intuitiv, dass der Terror von New York eine Verbindung nach Hamburg hat. Die Männer wissen, was das bedeutet: Das ist kein Fall mehr für die Hamburger Polizei, da müssen das Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt ran. Und Scholz-Sprecher Holstein weiß, dass sich schon bald Medien aus aller Welt melden werden. Zwischendurch schießt ihm eine aberwitzige Idee durch den Kopf: "Hier kommt bestimmt gleich einer rein und sagt: Das ist alles Quatsch." Wunschdenken.
12. September, 23 Uhr, Marienstraße 54, Harburg
Kriminaltechniker in weißen Plastik-Overalls haben das große Spurensicherungsbesteck ausgepackt. An jeder Wand, an jeder Tür, an jedem Fenster versuchen die Beamten Fingerabdrücke zu sichern. Überall tragen sie feinstes Magna-Brush-Pulver auf - magnetisierte Metallsplitter mit Ruß versetzt. Sie werden nicht fündig. "Alles clean", melden die Techniker. "Wie in Erftstadt-Liblar", murmelt einer. Dort war 1977 Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer wochenlang von der RAF in einer Wohnung gefangen gehalten worden.
12. September, 23.31 Uhr, US-Generalkonsulat, Außenalster
In der weißen Villa brennen noch alle Lichter. Hier ist keiner nach Hause gegangen, zu viele Anfragen von Amerikanern in Deutschland, die wissen wollen, was mit ihren Angehörigen in New York passiert ist - und von Deutschen, die Angehörige und Freunde drüben haben. US-Konsulin Susan Elbow (44), erst wenige Wochen im Amt, hält ständig Kontakt mit ihrem Außenministerium und dem FBI. Den Anruf vom Hamburger Staatsschutz nimmt sie in ihrem Büro entgegen. Martin Bähr berichtet der Konsulin: Mehrere Verdächtige kommen aus Hamburg. Elbow nickt. Dann ruft sie in Washington an.
Und am nächsten Nachmittag wird sie auf dem Rathausmarkt auf der Trauerfeier zu Tausenden Hamburgern sprechen . . .
12. September, 23.40 Uhr, Wilhelmstraße 30, Harburg
Diskrete Befragungen bei Nachbarn ergeben: Al Shehhi ist schon vor gut einem Jahr ausgezogen. Das MEK zieht ab.
13. September, 00.01 Uhr, Bunatwiete 23, Harburg
Die Wohnung im 1. OG links gehört Said Bahaji, einem der früheren Mieter der Marienstraße 54. Seit Stunden hat sich nichts getan in der Wohnung, nur das schummerige Licht brennt noch. MEK-Mann Rohweder fragt beim Führungsstab an: "Stürmen oder nicht?" Die Antwort: "Geht rein." Das MEK bereitet sich vor.
13. September, 00.49 Uhr, Wiesbaden, Bundeskriminalamt
Das BKA übernimmt offiziell die Ermittlungen. Dem Führungsstab in Hamburg war schon länger klar, dass das so kommen würde. Trotzdem hatten sie mit Hochdruck gearbeitet. "Man hätte auch vor dem Haus in der Marienstraße stehen bleiben können, bis das BKA am nächsten Morgen eintrifft", sagt Innensenator Scholz. Doch man will keine Zeit verlieren. Und weil der Innensenator persönlich da ist, weiß die Polizeiführung, dass die Politik hinter ihnen steht.
13. September, 1 Uhr, Ehestorfer Weg, Harburg
Jörg Severin (61) ist Kanzler der TU Harburg. Nach den letzten Sondersendungen des Fernsehens über die Terroranschläge ist er ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen.
13. September, 1.12 Uhr, Bunatwiete 23, Harburg
Thies Rohweders MEK-Männer sind bereit. Die schwarzen Sturmhauben sind über die Gesichter gezogen, die Schutzwesten festgezurrt. Die Anspannung ist groß. Sie fürchten, dass ein Komplize der New Yorker Terroristen hier wohnt. Rohweders Männer müssen in die Wohnung, ohne zu wissen, was sie erwartet. Bewaffnete Gegenwehr, Sprengfallen? Dann der Sturm. Nicht durchs Fenster wie erst geplant. Mit einer Ramme brechen sie die Tür auf. Ganz klassisch, wie schon 100-mal geübt.
Draußen in einem MEK-Fahrzeug sitzt Thies Rohweder am Funk. Bange Sekunden. Er wartet auf Rückmeldung. "Personen angetroffen, eine weibliche Person und ein Kleinkind. Keine Zielperson", quäkt es über Funk. Erleichterung?
In der Wohnung ist die Hölle los. Die "weibliche Person", Bahajis streng muslimische Ehefrau Nese, ist außer sich: Männer haben sie ohne Schleier gesehen und sind mit Schuhen in die Wohnung gekommen. "Wir konnten ja nicht auf Socken kommen", sagt Rohweder. Sieben weitere Wohnungen werden Rohweders Männer in den nächsten 48 Stunden noch stürmen. "Aber die Stunden vom 12. auf den 13 September, das war die Nacht."
(erschienen im Hamburger Abendblatt vom 11.09.2002)