Das Abendblatt berichtete ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September 2001, wie die Hamburger die Tage des Terrors erlebten und was geschah, als die Spuren der Attentäter auch nach Hamburg führten.
Donnerstag, 13. September, 6 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
In der Polizeikantine wird ein kleines Frühstücksbüfett aufgebaut. Für die Männer und Frauen, die die Nacht durchgemacht haben. Zwei Bleche mit Brötchen werden in den Führungsstab gebracht. Scholz-Sprecher Christoph Holstein (damals 37) schaut nachdenklich aus dem Fenster: "Was ist, wenn sich herausstellt, dass wir Fehler gemacht haben?"
Um die gleiche Zeit beginnen zwei Polizeibeamte im Erdgeschoss einen großen Raum für eine Pressekonferenz herzurichten. Sie stellen 150 Stühle bereit, bauen ein Podium auf.
In den USA geht man zu diesem Zeitpunkt noch von mehr als 10 000 Toten aus.
13. September, 7 Uhr, Buchholz in der Nordheide
TU-Präsident Christian Nedeß (57) steht vor dem Spiegel und rasiert sich. Er hört dabei die Nachrichten. Und dann fällt ihm "fast der Rasierapparat aus der Hand". Erst Hamburg, dann Harburg, dann die Marienstraße, dann die TU - seine Uni. Nedeß springt ins Auto und ruft seinen Kanzler Jörg Severin (61) an: "Ist da wirklich was dran?", fragt er.
"Ja, leider." Nedeß fährt an die Uni.
13. September, 7.30 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Der Führungsstab im Polizeipräsidium löst sich auf. Innensenator Olaf Scholz (SPD, 43) geht mit seinem Sprecher Christoph Holstein (37) in die Pressestelle der Polizei. Er will mit Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD, 58) sprechen. Es gibt nämlich Ärger mit Generalbundesanwalt Kay Nehm (60). Der will nicht, dass Scholz eine Pressekonferenz abhält.
Der Druck der Medien ist riesig. Aber Nehm ist Herr <<des>> Verfahrens und besteht darauf, dass Scholz - wenn er denn schon eine Pressekonferenz abhalten will - lediglich die Arbeit der Hamburger Polizei lobt. Mehr nicht. Auf keinen Fall irgendwelche Einzelheiten über die Einsätze der vergangenen Nacht.
Däubler-Gmelin spricht mit Nehm. Scholz darf vor die Presse, mit Einzelheiten.
13. September, gegen 7.30 Uhr, Campus TU Harburg
Die Polizei ist wieder da. Will noch mehr über die Aktivitäten von Terrorpilot Mohammed Atta herausfinden. Im Rechenzentrum kopieren sie alle Datensätze. Und werden fündig. Atta hatte einen 70-Megabite-Internetzugang. Und eine Internet-Adresse: el-amir@tu-harburg.
Eine Internet-Adresse auf einem leistungsstarken Uni-Rechner? Ideal um unkontrolliert und abhörsicher weltweit kommunizieren zu können. Telefon, Fax und Handy werden seit Jahren von Terroristen nur in Notfällen benutzt - aus Angst vor den hochgerüsteten Abhörsatelliten <<des>> amerikanischen Geheimdienstes NSA.
13. September, kurz nach 9 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Der Makler Thorsten Albrecht (35) sitzt bei den Staatsschützern und berichtet über seine Mieter aus der Marienstraße 54. Es gab nie Beschwerden. Sie zahlten pünktlich die Miete, per Dauerauftrag von der Haspa.
13. September, kurz vor 10 Uhr, Campus TU Harburg
Uni-Präsident Christian Nedeß sitzt in seinem Büro. Anrufe über Anrufe. Der Staatsschutz aus Alsterdorf, das FBI aus Washington. Am Apparat Wissenschaftssenatorin Krista Sager (GAL, 48): "Auf Sie kommen schwere Zeiten zu. Soll ich zur TU kommen?" Nedeß: "Ja!" Sager: "Wann?" Nedeß: "Sofort."
13. September, gegen 11 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
Vor dem Portal fahren dunkle Mercedes-Limousinen vor. Die ersten 20 Beamten <<des>> Bundeskriminalamtes sind da, übernehmen die Ermittlungen. Chef der BKA-Truppe in Hamburg wird zunächst Kriminaloberrat Ralf Simon. Staatsschützer Martin Bähr (42) und Simon kennen sich gut, von Lehrgängen an der Polizeiführungsakademie in Münster-Hiltrup. Sie duzen sich.
Die BKA-Männer beziehen zwei Flügel im 5. Stock des Präsidiums. Sie bekommen Telefone und Telefonlisten. Eigene Techniker installieren Standleitungen zu ihren Computern in Wiesbaden und Meckenheim. Von nun an ist die Hamburger Polizei bei den Terror-Ermittlungen nur noch so etwas wie ein Service-Dienstleister für die Bundesbehörde.
13. September, gegen 11 Uhr, Kasernenstraße, Harburg
Im Büro von Professor Dittmar Machule (61), er ist Experte für Städtebau und Stadtgeschichte, läuft der Fernseher. Als ein Bild von Mohammed Atta eingeblendet wird, bricht eine Studentin weinend zusammen. "Das ist er. Unser Amir. Ich bin ganz sicher."
Machule selbst, bei dem Atta sein Examen mit den Noten 1,7 und 1,0 (Thema: Khareg Bab-en Nasr: Ein gefährdeter Stadtteil in Aleppo. Stadtteilentwicklung in einer islamisch-orientalischen Stadt) abgelegt hatte, erkennt Atta, den sie alle nur als Amir kannten, nicht. "Wollte ich es einfach nicht wahrhaben?", fragt er sich später. Der Professor, der Atta jahrelang als eine Art studentischen Ziehsohn betrachtet hatte, weint in einem Fernseh-Interview, er sei "noch nie von einem Menschen so getäuscht worden". Ihm schien auch, dass sein Student Amir im Fernsehen ein anderes Gesicht hatte als das, das er kannte: "Viel verbissener, böser."
13. September, kurz vor 11 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf
In wenigen Minuten beginnt die Pressekonferenz mit Innensenator Scholz und verantwortlichen Polizeiführern. Der Politiker bespricht sich noch kurz mit seinem Sprecher Christoph Holstein, der einen Spickzettel entworfen hat. Scholz, der zwischendurch kurz zu Hause in Altona war, hat seinem Holstein ein frisches weißes Hemd mitgebracht. Der hat nämlich immer noch sein T-Shirt vom Vorabend an mit dem Aufdruck "Victoria Falls. Zimbabwe". So kann er wirklich nicht vor die Presse treten.
15 Kamerateams und 80 Journalisten aus vielen Ländern warten in dem großen Raum im Erdgeschoss. TV-Sender wollen live berichten.
13. September, 13.30 Uhr, Campus TU Harburg
Uni-Präsident Nedeß hat eine Vollversammlung im Audimax einberufen. 500 Studenten, Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter sind da. Dutzende Fernsehkameras sind auf Nedeß und Wissenschaftssenatorin Sager gerichtet. Die beiden informieren das entsetzte Auditorium darüber, dass zwei ehemalige Kommilitonen unter den Attentätern von New York waren. Viele weinen. Auch Nedeß hat Tränen in den Augen. "Ein schwerer Schock für uns alle", sagt der Präsident. Die TU Harburg ist stolz auf ihre Internationalität, hat sie sogar zum Aushängeschild gemacht. Ziel war, den ausländischen Studentenanteil von 20 auf 25 Prozent zu steigern. "Wir werden unseren Weg weitergehen", beschwört Nedeß die Vollversammlung.
Der Uni-Präsident spricht sehr offen - trotz Nachrichtensperre, die der Generalbundesanwalt und das BKA verhängt haben und über die Nedeß und Uni-Pressesprecher Rüdiger Bendlin (39) stocksauer sind.
13. September, früher Nachmittag, Campus TU Harburg
Auf dem Campus ist durchgesickert: Die Polizei hat in der Nacht zuvor auch Hinweise entdeckt, dass Terrorpilot Mohammed Atta an der Uni eine Islam-AG mit 20 Mitgliedern geleitet hat. Atta selbst hatte sie am 27. Januar 1999 gegründet. Der Sitzungsprotokollant des Allgemeinen Studentenausschusses (Asta) vermerkt damals: "Ansprechpartner der neuen islamischen Arbeitsgruppe: Mohammed El-Amir, Marienstraße 54."
Die Islam-AG hat auch einen eigenen Raum, in einer Baracke auf dem Campus. Fünfte Tür rechts, Raum Nummer 10. Den wollen nach der Vollversammlung die Journalisten sehen.
Peter Stählin (23), Präsident des Studentenparlaments: "Hier war die Hölle los. Wir haben uns vor die Tür der Islam-AG gestellt und sie blockiert. Dreimal mussten wir bei der Polizei anrufen, ob die nun irgendwas unternehmen wollen." Man habe so viel zu tun, man komme später, wurden sie vertröstet. Nach knapp einer Stunde sind die BKA-Fahnder da, packen Unterlagen ein. Hendrich Quitmann (23), stellvertretender Asta-Vorsitzender, wundert sich: Eine ganze Kiste mit Material und Büchern und einem Gebetsteppich bleibt da. Dann wird die Tür versiegelt.
Den Kalender auf dem Tisch lassen die Beamten auch stehen. In einem roten Quadrat ist der 12. September 2001 eingerahmt. Zufall? Es ist der Tag nach dem Anschlag.
13. September, gegen 16 Uhr, Los Angeles
An der Pazifikküste ist es früh am Morgen. Irmintraut Jost (42), Leiterin des New Yorker Büros vom Springer-Auslandsdienst (SAD), sitzt immer noch in Los Angeles fest. Nach wie vor ist der Luftraum über den USA gesperrt.
Sie ruft in der Zentrale in Hamburg an. Die Kollegen gratulieren. Sie hatte als erste deutsche Journalistin die Spur nach Harburg gemeldet.
Sie erfährt, dass die Terrorpiloten an der TU Harburg studiert haben. Da bekommt sie ein "ganz seltsames Gefühl im Bauch. Ich hatte damals über die Gründung der TU für das Abendblatt berichtet."
(erschienen im Hamburger Abendblatt vom 13.9.2002)