Hamburg. Silke Fokken erklärt im Abendblatt, warum es fatal ist, nach Hochphase der Pandemie an den Schulen einfach zur Tagesordnung überzugehen.
Es könnte kaum eine geeignete Botschafterin geben, die sich im Sinne der Corona-„Krisenkinder“ nun Gehör verschafft: Die Hamburgerin Silke Fokken ist nicht nur Mutter von vier Kindern – zwei sind erwachsen, eines besucht die Mittelstufe, eines geht in die erste Klasse –, sondern auch Journalistin. Sie schreibt für das Bildungsressort beim „Spiegel“.
Für ihr aktuelles Buch mit eben dem Titel „Krisenkinder“ führte Fokken Gespräche mit vielen Kindern und Jugendlichen in Deutschland und zeichnete dann mithilfe der verfügbaren Studien ein Bild über die Auswirkungen der Pandemie auf die jüngeren Gruppen unserer Gesellschaft. „Ich glaube tatsächlich, dass man sich erst zu spät um die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen gekümmert hat und auch um die Nöte, die in dieser Pandemiezeit durch die Corona-Beschränkungen entstanden sind.
Corona-„Krisenkinder“: Zusammensein mit Gleichaltrigen hat tiefere Bedeutung
Man hat zu wenig gesehen, dass diese Beschränkungen Kinder und Jugendliche in einer ganz besonderen Phase ihres Lebens getroffen haben, die eben nicht mit der zu vergleichen ist, in der wir als Erwachsene leben“, sagt sie im Abendblatt-Familienpodcast.
Auch wenn vielen Erwachsenen die Treffen mit Freunden und Familie ebenfalls fehlten, so habe das Zusammensein mit Gleichaltrigen für Heranwachsende eine größere und tiefere Bedeutung: Es geht um den Austausch auf kindlicher Ebene, beispielsweise kämen Witze bei Erwachsenen nicht ganz so gut an wie beim gleichgesinnten Drittklässler.
Kinder sollen lernen, sich in Gruppen zurechtzufinden
Neben dem „Wohlfühl-Ding“, das damit verbunden sei, drehe es sich darum, dass das soziale Lernen vorangetrieben werden müsse: Kinder sollten in dieser Phase ihres Lebens lernen, sich in der Gruppe zurechtzufinden, Regeln auszuhandeln, Kompromisse einzugehen. „Man merkt jetzt in den Schulen, dass hier Kinder und Jugendliche Nachholbedarf haben“, sagt Fokken. Bei Jugendlichen sind die Freundschaften auch deshalb wichtig, da es um die langsame Abnabelung vom Elternhaus geht.
Welche Altersklasse besonders hart von der Pandemie getroffen wurde, sei pauschal nicht zu sagen. „Unterm Strich ist es eher so, dass es sehr von den Lebensumständen abhing, unter denen sich die Kinder befunden haben“, sagt Fokken. Beengte Wohnverhältnisse, psychische Probleme oder existenzielle Belastungen der Eltern führten dazu, dass diese Kinder und Jugendlichen statistisch „überdurchschnittlich betroffen“ seien. Fokken bezieht sich auf die Ergebnisse der sogenannten COPSY-Studie, der Längsschnittstudie „Corona und Psyche“ des UKE unter der Leitung von Ulrike Ravens-Sieberer, und zitiert diese: „Besonders betroffen sind die Kinder, um die wir uns eigentlich schon vorher hätten besonders kümmern müssen. Das ist nicht passiert“, sagt Fokken und fügt hinzu: „Und das passiert immer noch zu wenig.“
Isolation zeichnet sich in alltäglichen Konflikten ab
Fokken erzählt von den Jüngsten, die „nicht mehr richtig gehört, gesehen und wahrgenommen werden“. Sie beschreibt das Schicksal eines Jungen, der sexuell missbraucht wurde, dessen Mutter keine Unterstützung hatte, einen Therapieplatz zu bekommen, und der nun seit Längerem nicht einmal mehr zur Schule geht. Der unerreichbar wurde.
Auch in alltäglicheren Konflikten, Ängsten und Sorgen zeichnen sich die Spuren der Einsamkeit aufgrund der Isolation ab: Obschon Geschwister da sind, fehlten den meisten Kindern gleichaltrige Freunde. Denn „Brüder sind eben nicht das Gleiche wie Freundinnen“ – so sagt es ein kleines Mädchen mit drei Brüdern. Sie habe sich viele Gedanken darüber gemacht, wie ihre Freundschaften denn „danach“ wohl aussehen würden.
Können sich Kinder überhaupt wieder aufs Lernen einlassen?
Dieses „Danach“ wird natürlich aktuell auch in den Schulen gelebt. „Es gibt ein bisschen dieses Gefühl, das sich breitmacht, dass man wieder zur Tagesordnung gehen kann. Und ich denke, das ist fatal“, sagt Fokken. Sie höre von vielen Schülern, dass erwartet würde, dass sie an die früheren Leistungen anknüpften und Defizite aufholten, als wäre nichts gewesen. Jedoch habe die Corona-Pandemie eben Spuren hinterlassen, mit denen man umgehen müsse. Muss der Stundenplan wirklich so gefahren werden, wie er gesetzt ist, oder kann man etwas umstellen? Können sich die Kinder überhaupt aufs Lernen einlassen? Um auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können, müssten besondere Projekte und grundlegende strukturelle Änderungen initiiert werden Bundesweit seien dafür mehr Personal und Ressourcen nötig.
Besonders aussagekräftig war für Fokken die Formulierung eines Jugendlichen: Junge Leute, sagte er, möchten „nicht nur als Schüler gesehen werden, sondern auch als Menschen“.