Hamburg. Stadtderby: Ex-HSV-Stadionsprecher Lotto King Karl und St.-Pauli-Fan König Boris von Fettes Brot sprechen über das Spiel der Spiele.
Das Treffen der Könige beginnt im Treppenhaus des Hamburger Abendblatts. König Boris kommt gerade aus dem Fahrstuhl, nachdem er mit dem Fahrrad angereist ist, um fünf Tage vor dem Stadtderby zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli seinen Lieblingsverein vom Millerntor zu vertreten. Der 46 Jahre alte Sänger der Hamburger Hip-Hop-Band Fettes Brot wartet auf Lotto King Karl, der ganz königlich mit dem Auto in der Tiefgarage einfährt.
Der Musiker aus Barmbek, der seit 1973 zum HSV geht, liefert sich anschließend im Abendblatt-Studio ein einstündiges Derby-Warm-up. Im Podcast „HSV – wir müssen reden“ geht es diesmal um das 105. Stadtduell der beiden Hamburger Zweitligisten. Zur Einführung des Derby-Gesprächs wird Lotto King Karls Hit „Könige des Nordens“ von 2001 angespielt.
Lotto King Karl Tut mir leid, Boris, von der Einführung wusste ich nichts.
König Boris Wenn das die einzige Demütigung bleibt in diesem Gespräch, ist das okay (lacht).
Lotto Du siehst übrigens echt gut aus heute.
Boris Danke, du auch. Und Könige des Nordens passt ja auch.
Lotto Du weißt ja, Boris: Du kannst den King aus der Hood bringen, aber niemals die Hood aus dem King.
Als Boris Lauterbach, wie König Boris mit bürgerlichem Namen heißt, das erste Mal zum FC St. Pauli ging, war er 15 Jahre alt. Ein paar ältere Männer nahmen ihn mit in den sogenannten Hafenstraßenblock am Millerntor. 1989 war das, in den Hochzeiten der Häuserkämpfe auf St. Pauli. Ein Heimspiel gegen den 1. FC Köln. „Ich stand da im Stadion und wusste sofort, dass der FC St. Pauli eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen wird. Ich wurde verzaubert“, sagt Boris, der drei Jahre später mit Dokter Renz, Schiffmeister, Mighty und Tobi Tobsen die Band Fettes Brot gründete und mit dem Pseudonym König Boris mitwirkte.
Den Namen hatte er sich gegeben, weil zwei Graffiti-Künstler damals „King Boris“ an die Wand seines Kinderzimmers sprühten. „Als Rapper muss man sich ja einen Namen ausdenken. Und so wurde ich König Boris.“
Lotto King Karl brachte 1995 seinen ersten Song heraus („Ich hab den Jackpot“). Gerrit Heesemann gab sich den königlichen Namen nach seiner selbst erdachten Legende vom Gabelstaplerfahrer Karl König, der im Lotto gewinnt. Mit seinem HSV-Stadionlied „Hamburg, meine Perle“ wurde er bundesweit bekannt.
14 Jahre lang arbeitete er als Stadionsprecher im Volksparkstadion, ehe sich der NDR vor einem Jahr von ihm trennte und seitdem auch sein Lied nicht mehr vor den Heimspielen läuft. Fan vom HSV ist er aber trotzdem geblieben. Am Freitagabend wird er Sky anschalten und das Derby zu Hause auf dem Sofa anschauen.
Lotto Wo guckst du denn das Derby?
Boris Im Stadion leider nicht. Sind überhaupt Fans zugelassen? Ich gucke in jedem Fall beim Freund.
Lotto Aus zwei Haushalten?
Boris Wir sind nur zu zweit. Von daher ist alles im legalen Bereich.
Lotto Ich würde auch gerne bei einem Freund gucken, aber ich habe nicht so viele Freunde (lacht).
Boris Es ist natürlich auch echt schwierig im Moment. Das Stadionerlebnis fällt komplett weg. Ich fiebere dem Derby trotzdem entgegen, weil es gerade richtig Spaß macht, St. Pauli zuzugucken. Das ist eine erfrischende Art, immer schön nach vorne. Gerne auch mal Rückstände wieder aufholen. Das macht mir echt Freude. Das Derby kann kommen.
Lotto Das geht mir ähnlich. Der HSV ist super gestartet. Es macht Spaß zuzugucken. Das Derby ist natürlich kein Spiel wie jedes andere. Ich kenne in der Stadt viele Fans des Gegners, das macht es besonders.
Boris Bei mir ist es genauso. Jeder kennt im Freundes- und Kollegenkreis jemanden, der den anderen Verein gut findet. Das verleiht dem Spiel eine besondere Brisanz. Man muss sich trotz Corona keine Sorgen machen, dass es zu wenige Emotionen geben wird beim Derby.
Lotto Solche Spiele leiden natürlich besonders unter der Corona-Krise, das ist schon traurig. Die Atmosphäre geht gerade bei diesem Spiel enorm ab.
Boris Corona macht es dem gesamten Fußball schwierig. Aber umso schöner wird es, wenn wir eines Tages wieder alle in die Stadien dürfen.
König Boris und Lotto King Karl leiden als Musiker, die in der Regel auf großen Bühnen auftreten, besonders unter der Corona-Pandemie. 15 Festivals, auf denen Fettes Brot in diesem Sommer spielen sollte, wurden abgesagt. Auch Lotto King Karl musste mit seiner Band alle Konzerttermine verschieben.
Nur einen Auftritt hatten sie im Autokino Steinwerder. Während in den Fußballstadien zwischenzeitlich schon wieder bis zu 10.000 Fans unter Berücksichtigung der Hygieneregeln dabei sein durften, kamen Konzerte, bei denen man Abstände einhalten muss, für die beiden Künstler nicht infrage.
Boris Ich habe zurzeit tatsächlich sehr viel Freizeit. Ich mache Musik so vor mich hin. Das ist das, was ich kann und was im Moment nur möglich ist. An irgendwelche Auftritte ist nicht zu denken.
Lotto Mir geht es ähnlich. Ich bin jetzt noch besser geworden bei Fifa Soccer an der Playstation. Ich schreibe ein paar Texte, für mich und für andere. Alles andere fällt aus. Aber wie man sieht bei mir und Boris, sind wir beide sehr, sehr fit geworden (lacht).
Boris Zumindest konnte ich während der Corona-Zeit schon zweimal im Stadion dabei sein. Ich hatte Losglück.
Lotto Wir haben zwischendurch mal ein Autokino-Konzert gegeben. Es war schon etwas komisch vor 200 hupenden Autos, aber letztlich gar nicht so seltsam, wie wir es erwartet haben. Finanziell hilft das natürlich nicht, aber wir wollten die Crew unterstützen. Am Ende war es ein wirklich schöner Abend.
Boris Für mich gehört zu einem Konzert Ekstase, es wird gefeiert, die Leute liegen sich in den Armen, schmeißen mit Bierbechern. Wir warten noch, bis wir wieder dürfen. Dann sind alle hungrig, und dann geht’s richtig rund. Wer wartet nicht auf die Post-Corona-Orgie, die es irgendwann geben wird? Alle noch mit der Impfspritze im Oberarm – und los geht’s (lacht).
Während des Gesprächs zwischen den beiden entbrennt eine Diskussion über Fußballsongs. Am Montag hat der Rapper Daweed einen eigenen Song über den neuen HSV-Torjäger Simon Terodde veröffentlicht. Die Lieder von Lotto King Karl über den HSV sind bekannt. Auch Fettes Brot nahm 2006 das Lied „Fußball ist immer noch wichtig“ auf. Nach dem Klassenerhalt 2015 schrieb die Band mit Nils Frevert einen Song über den damaligen Trainer Ewald Lienen. Eine Hymne über ihren FC St. Pauli hat sich Fettes Brot bislang aber nicht getraut.
Boris Wir haben vermieden, ein Lied über St. Pauli aufzunehmen. Das kann gerne mal nach hinten losgehen. Fußball und Musik ist ein vermintes Terrain, obwohl Fußball und Popkultur ja auch verwoben sind. Es gibt auch tolle Beispiele. „Football’s Coming Home“ ist für mich die Hymne schlechthin. Oder Lotto?
Lotto Für mich ist „You’ll never Walk Alone“ die größte Hymne. Ich habe eine Version im Kopf aus Australien, wo Liverpool in so einem ausverkauftem 100.000-Mann-Stadion spielt und alle Mann lautstark in den Anpfiff reinsingen. Da denkt sich sogar ein Steven Gerrard: „Alter, das ist geil!“ Ich lege mich fest: „You’ll Never Walk Alone“ auf Platz eins, dann „Hamburg, meine Perle“ auf Platz zwei. Und dann der Rest (lacht).
Boris Lottos Lied ist natürlich eine schöne Fußballhymne, da will ich gar nicht drum herum reden … Was ich auch noch sehr geil finde: „Bochum“ von Herbert Grönemeyer. Auch noch echt gut: Ajax Amsterdams Fans singen zu Bob Marley den Song „Three Little Birds In Stockholm“. Richtig gut! Ich muss gestehen, dass ich gerne Stadionhymnen auf YouTube beim Bierchen gucke, wenn ich Langeweile habe. Und in Corona-Zeiten ist mir oft langweilig.
Lotto Ich bringe noch zwei Hymnen ins Spiel: „Hala Madrid“ von Real ist sensationell. Auch das Geklatsche von Barcelona ist überragend. Mein Geheimfavorit, wenn man sich mal die Zeit nimmt und bei YouTube nach Stadionhymnen sucht: „Flower Of Scotland“.
Trotz aller Fanrivalität sprechen König Boris und Lotto King Karl fast schon freundschaftlich über das Derby. Politisch haben sich die beiden Fanlager in der vergangenen Saison ohnehin ein wenig angenähert. Im Fall Bakery Jatta solidarisierten sich die Fans des FC St. Pauli vor einem Jahr schon vor dem Derby am Millerntor mit dem HSV. Der Gambier wurde während des Spiels von beiden Anhängerschaften gefeiert. Der neue HSV-Trainer Daniel Thioune arbeitete zu dem Zeitpunkt noch beim VfL Osnabrück, wurde passenderweise aber gerade ausgezeichnet mit dem Fußballspruch des Jahres. „Wer es nicht schafft, gegen den HSV zu punkten, sollte nicht auf dem Rücken eines Flüchtlings, der niemandem etwas getan hat, versuchen, einen Vorteil herauszuholen, sondern besser auf die eigenen sportlichen Fehler schauen“, hatte Thioune damals gesagt.
Lotto Dem Spruch ist nichts hinzuzufügen. Allerdings weiß ich generell auch nicht so genau, ob es immer so gut ist, wenn sich jeder zu allem äußert. Die Jobs der Fußballprofis hat man ja nicht gerade durch einen Doktortitel erworben. Nicht jeder ist berufen, komplizierte Sachverhalte zu erklären. Aber grundsätzlich ist es immer gut, wenn man eine Meinung hat.
Boris Ich denke schon, dass es wichtig ist, dass die Haltung des Vereins zu bestimmten Themen erkennbar ist. Gerade bei Themen wie Rassismus.
Lotto Ich erinnere mich da an einen sehr weisen Spruch von Mike Scott von der Großen Freiheit. Er hat gesagt: „Es gibt keine Scheißländer. Es gibt nur Scheißtypen“.
Boris Dem HSV hing lange Zeit dieses Nazi-Image der Achtziger hinterher. Das war ja auch wirklich ein Problem. Aber das hat sich um 180 Grad gedreht. Das hat man auch bei der Jatta-Geschichte gesehen. Ich weiß auch von vielen HSV-Fangruppierungen, die sich sozial und politisch engagieren. Es gibt eben doch manchmal wichtigere Dinge als Fußball.
Zum Abschluss des königlichen Gesprächs wird es dann noch einmal sportlich. König Boris und Lotto King Karl müssen ihren Derbykönig und das Ergebnis vorhersagen.
Boris Der FC St. Pauli ist ja in letzter Zeit sehr verwöhnt, was Derbys angeht. Wir haben wenig zu verlieren, das ist ein gutes Gefühl. Ich habe mich auch sehr über die Lösung Timo Schultz gefreut. Nach der eher schwierigen Zeit mit Jos Luhukay war es genau die richtige Entscheidung, jemanden aus dem Verein zu nehmen. Und bisher sieht es ja auch so aus, dass es funktioniert. Ich habe das Gefühl, dass da was Gutes entsteht.
Lotto Ich bin schon seit 25 Jahren beim HSV. Stand jetzt – Stand jetzt ist übrigens eine Bernd-Hoffmann-Erfindung – kann es gar nicht besser laufen. Aber in der Rückrunde wird ja auch noch gespielt. Und beim HSV muss man traditionell über die Rückrunde reden.
Boris St. Pauli ist eine Wundertüte. Unser Held könnte Daniel-Kofi Kyereh werden. Es ist entspannt, dass der HSV als Favorit ins Derby geht. Ich tippe auf ein 1:1.
Lotto Ich hoffe auf ein richtig gutes Spiel. Auch St. Pauli kann in dieser Saison Fußball spielen. Ich glaube an ein 3:2 für den HSV, tippe aber auf ein 4:2 mit einem Derbyhelden Manuel Wintzheimer oder Simon Terodde.
Eine Stadt, zwei Clubs, viele Promi-Fans
- Natürlich ist der HSV der größere, ältere, traditionsreichere und bekanntere Club in Hamburg. Doch unter Hamburgs Prominenten ist das Verhältnis zwischen Fans vom FC St. Pauli und Anhängern vom HSV ziemlich ausgeglichen. Bekanntester und treuester HSV-Fan ist sicherlich Schauspieler Olli Dittrich, der seit Jahren eine Dauerkarte auf der Osttribüne hat. Ebenfalls große Anhänger sind Schauspieler Kostja Ulmann, Schriftsteller Saša Stanišic, Moderator Jörg Pilawa, die „Tagesschau“-Sprecher Judith Rakers und Marc Bator, die Gastronomen Tim Mälzer und Steffen Henssler, Budni-Gründer Cord Wöhlke, Außenminister Heiko Maas. Etwas abgekühlt ist die HSV-Leidenschaft von Schauspieler Bjarne Mädel. Auch HP Baxxter von Scooter wird dem HSV-Lager zugeordnet, genauso wie Schauspieler Moritz Bleibtreu, der dies aber nie wirklich bestätigt hat. Anders als NBA-Star John Collins (Atlanta Hawks), Sängerin Ina Müller, Bürgermeister Peter Tschentscher und ECE-Chef Alexander Otto.
- Dessen Bruder Frank Otto (Medienunternehmer) soll dagegen dem Kiezclub die Daumen drücken. Der FC St. Pauli erfreut sich besonders in Hamburgs Kulturszene großer Beliebtheit. Neben den Protagonisten von Fettes Brot gelten auch die Musiker Johannes Oerding, Bela B, Thees Uhlmann, Achim Reichel und Stefan Gwildis, die Schauspieler Axel Prahl, Pheline Roggan und Sebil Kekili, die Autorin Simone Buchholz sowie die Moderatoren Reinhold Beckmann und Elton als echte St. Paulianer.