Hamburg. Der Künstlerbetreuer bei Steinway kennt die Vorlieben und Abneigungen der Piano-Stars seit fast zwei Jahrzehnten.

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Sobald ein Klavier in der Elbphilharmonie oder der Laeiszhalle zum Einsatz kommen soll, ist Gerrit Glaner nicht weit. Doch auf einer der Bühnen wird man ihn nur sehr selten erleben. Sein Platz ist eher hinter den Kulissen: Gemeinsam mit Konzerttechnikern von Steinway sorgt Glaner seit 2002 dafür, dass das jeweilige Instrument so ist, wie es der Solist oder die Solistin des Abends möchte und braucht.

Kein einfacher Job, vorsichtig ausgedrückt, aber „wunderschön“, wie er findet. Die Privatperson Gerrit Glaner singt im Symphonischen Chor Hamburg und spielt Klarinette. Beruflich engagiert sich neben dem Tagesgeschäft in Hamburg für die Bekanntwerdung des pianistischen Nachwuchses, ist international bei Festivals und Wettbewerben unterwegs.

Hamburger Abendblatt: Ihren Beruf gibt es nur zweimal auf der Welt: Hier in Hamburg und in New York.

Gerrit Glaner: Wir haben uns so aufgeteilt, dass meine Kollegin Vivian Chiu Amerika macht, von Kap Horn bis Alaska, und bis vor kurzer Zeit konnten wir hier in Hamburg sagen, wir machen den Rest der Welt. Aber wir sind jetzt dabei, Kollegen auch in anderen Städten zu in­stallieren.

Wie sieht die Arbeitsplatzbeschreibung aus, jenseits vom Hinstellen des Wasserglases und dem Kümmern, das +der Schützling auf dem Weg zur Bühne nicht stolpert. Und wie wird man Künstlerbetreuer? Das ist ja kein Lehrberuf.

Glaner: „Künstlerbetreuer“ allein ist es auch nicht, das ist die griffigste Bezeichnung. Eigentlich nennt es sich „Leitung der Künstler- und Konzertabteilung“. Da spielt emphatisches Miteinander mit den Künstlerinnen und Künstlern hinein, aber ganz klar auch Marketing. Denn wenn wir mit Wettbewerben und Festivals zusammenarbeiten, die Instrumente von uns benötigen, muss man irgendwann auch über Geld reden.

Wie sieht ein künstlerbetreuender Tagesablauf aus?

Glaner: Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Ich organisiere nicht das Konzert, ich bin da, wo die Klaviere und wo die Künstler sind. Wenn wir zehn Minuten vor Showtime sind, kann es schon mal sein, dass der Künstler einen anfährt und sagt: Ich kann auf diesem Instrument nicht spielen. Dann geht es darum, Ruhe zu bewahren und die Ruhe auch beim Künstler wiederherzustellen. Mit dem Techniker zu reden. Sodass am Ende der Künstler rausgehen kann in der Sicherheit, dass er sich um seine Kunst kümmern kann und nicht aufs Klavier achten muss.

Also ist man hauptsächlich Psychologe.

Glaner: Auch. Man braucht Geduld und muss viel hinhören. Das Hören ist in unserem Beruf wichtiger als das Sagen. Wenn ein Künstler mir sagt, da stimmt etwas nicht, können wir zwar tausendprozentig sicher sein, dass der Flügel tiptop ist. Aber wenn er sagt, da stimmt etwas nicht, dann stimmt etwas nicht.

Schicken Künstler schon lange vor dem Auftritt Wunschlisten, wie der Flügel unbedingt sein soll und wie auf keinen Fall?

Glaner: Das kommt vor. Ein junger Pianist, unter 30, schickte eine zwei Seiten lange Auflistung, orientiert war die Wertigkeit am Flügel von Arturo Benedetti Michelangeli. Aber es ist manchmal auch die Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau: Jeder Flügel ist individuell, jeder hat besondere Stärken und auch die eine oder andere Schwäche. Das hundertprozentige Instrument gibt es so wenig, wie es den hundertprozentigen Menschen gibt.

Viele denken wahrscheinlich, ein Flügel wäre wie der andere. Was sind die irrationalen und was die rationalen Pianisten-Wünsche, und was unterscheidet einen okayen von einem tollen Flügel?

Glaner: Es stellt sich ja niemand in die Werkstatt und sagt, so, heute bauen wir nur mittelprächtige und hoffen mal, dass es niemand merkt. Was am besten ist, kann man nicht sagen. Kunst entsteht im Auge des Betrachters.

Es gibt in der Elbphilharmonie und der
Laeiszhalle Flügel-Garagen, wo mehrere Instrumente für die Auswahl anreisender Künstler parken. Wie ist die Bandbreite, von barocktauglich bis gut für Spätromantik, von PS-stark zu besonders feinzeichnend?

Glaner: In der Elbphilharmonie stehen jetzt vier Flügel, von denen der letzte ein Jazz-Flügel ist, der von Brad Mehldau ausgewählt wurde. Mit dem könnte man aber auch Debussy spielen. Die Flügel werden nicht nach stärker oder schwächer ausgewählt, sondern nach Charakteristik. Wenn ich ein Rachmaninoff-Prélude spielen will, habe ich eine andere Klangvorstellung als bei einer Scarlatti-Sonate. In der
Laeiszhalle haben wir im letzten Jahr einen großen Test gemacht, um sechs Flügel auf der Bühne auszuprobieren. Einen von der vorigen Auswahl haben wir gelassen, den K 264, in den sich Yuja Wang sehr verliebt hat, aber viele andere auch. Und wir haben einen anderen bei uns gefunden, K 283, der kann alles. Der ist groß, aber er kann auch fein singen. Grigory Sokolov hat vor einiger Zeit gesagt: Ein idealer Flügel ist der, mit dem man alles machen kann.

Und die jeweiligen Instrumente sind je nach Vorlieben reserviert? Die Künstler ignorieren die anderen und nehmen wie immer nur die 263?

Glaner: Sokolov will vier Monate vorher wissen, wie viele und welche Instrumente da sind. Als ich bei Steinway anfing, hieß es, er kommt. Ich kannte ihn aus Konzerten und ich dachte immer, das ist ein grimmiger Mann. Und an jenem Tag gab es den Hilferuf eines Veranstalters, der vergessen hatte, einen Flügel zu bestellen. Und der einzige Flügel, der schnell losgehen konnte, war einer aus der Laeiszhalle. Da waren es nur noch zwei. Aber Sokolov ist absolut gewohnt, drei auszuprobieren. Da gingen mir die Nerven doch hoch. Wir fanden noch einen, der wurde aus der Fabrik schnell hingebracht, mit dem Hinweis, dass er zwei Monate auf der Seite gestanden hatte und wir keine Zeit für die Vorbereitung hatten. Er spielte alle an und nahm: genau den. Der würde besser zum jetzigen Repertoire passen. Und er spielte am nächsten Tag ein Recital, eigentlich wie immer: Da geht man raus und möchte eigentlich nur spazieren gehen.

In der Elbphilharmonie gab es einmal eine Nacht, in der herausbekommen werden sollte, wo auf der Bühne im Großen Saal ein Flügel ohne Deckel am besten aufgehoben ist. Das geht dort, aber anders als gewohnt oben ohne zu spielen, ist eine gewisse Mutprobe. Hört das Ergebnis dann überhaupt jemand im Saal, abgesehen vom Pianisten selbst?

Glaner: Man wird ja nie fertig. Die Akustik muss man tatsächlich erleben und erfahren. Die ideale Position ist manchmal gar nicht zu finden, wenn das Orchester so groß besetzt ist, dass der Flügel vorn an der Rampe stehen muss. Als ich mit dem Akustiker Yasuhisa Toyota darüber sprach, hat er mir einige Tipps gegeben, beispielsweise, wo die Querbalken unter der Bühne laufen. Wenn einer der Flügelfüße dort stünde, wurde auch die Vi­bration mit in den Boden gehen und den Klang anreichern. Auf jeden Fall ist es immer gut, wenn der Flügel ein, zwei Meter hinter dem Bühnenrand steht, weil dann die Reflexion des Deckels erst auf den Bühnenboden geht und von dort in den Saal. Unterschiedliche Pianisten haben unterschiedliche Lieblingspositionen, die auch hinterlegt sind.

Diese Arbeit ist also auch Simultanübersetzen, von Pianist zu Deutsch, wenn der Pianist im Flügellager dem Klavierstimmer Dinge sagt wie: Ich hätte den Bass gern etwas knuspriger.

Glaner: Nein, das geht direkt. Unsere Techniker sind sehr offen gegenüber den Wünschen. Meine Tätigkeit geht teilweise in die Fabrik. Dämpfung ist ein ewiges Thema. Wenn die Dämpfer Geräusche machen, kriegen viele Gänsehaut, das hassen wir alle. Wir haben vor einigen Jahren die „harmonische Dämpfung“ ins Spiel gebracht. Die hat ein Mitarbeiter erfunden, der seit 30 Jahren Dämpfungen macht und sonst nichts. Ihm ging die Kritik von Sokolov auf den Geist, er wollte es einfach besser machen. So wurde das Klangspektrum klarer und man kann auch mit einem Viertel Pedal spielen, nur einen Hauch anheben. Dann war Daniil Trifonov bei einer Fabrikführung und wir trafen den Kollegen. Am Abend ging Trifonov in die Laeiszhalle, um sich einzuspielen und fragte den Techniker: Wo ist der Flügel mit der harmonischen Dämpfung? Der hatte einen guten Moment, weil er sagen konnte: Alle drei haben die. Er hat sie ausprobiert und einen Klavierabend gespielt, nach dessen Ende er sagte: So etwas habe ich noch nie gespielt, Farben, die ich immer gesucht habe, die aber nie geklappt haben.

Es wäre übertrieben zu sagen: Jeder Pianist ist nur so gut wie der Flügel, den man ihm hinstellt?

Glaner: Martha Argerich ist besser … Sie hat mal gesagt: Manchmal spielt der Flügel besser als ich. Das findet sie ganz großartig und da ist auch etwas dran. Die Steinway-Flügel sind ja keine bequemen In­strumente, sie sind der Spiegel dessen, wie der Pianist spielt. Der Flügel wartet ab, was der Pianist sagt. Und Martha Argerich hat mir einmal gesagt: Wenn der Flügel schlecht klingt, hat nicht der Flügel das Problem. Dann bin ich das. Künstler sagen über unsere Flügel: Ich werde immer wieder zur Fantasie an­geregt, muss immer wieder über mich
hinauswachsen. Ich muss jedes Mal mich und meinen Klang neu suchen.

Manche bevorzugen andere Marken, die anders klingen: Der Bösendorfer Imperial, ein Bechstein, oder das Instrument, das Daniel Barenboim sich bauen ließ. Mikhail Pletnev spielt einen Kawai… aber dennoch: Heutzutage ist, anders als in früheren Jahrhunderten, vieles bei den Instrumenten sehr genormt.

Glaner: Keiner muss einen Steinway spielen. Und so genormt sind sie ja auch nicht, wir haben rund 600.000 gebaut und keiner klingt wie der andere. Zum Thema historische Instrumente: Beethoven war nie mit denen zufrieden, die er hatte, sie genügten nie seinen Anforderungen und er musste sich arrangieren. Die meisten spielen seine Musik heute auf modernen Instrumenten – andere sagen, es muss unbedingt eines aus seiner Zeit sein. Ein sehr weites Feld … Beethoven auf dem Hammerflügel ist eine Farbe, die eine Idee gibt, wie es damals geklungen haben mag. Ein Pianist sagte: Wenn man Beethoven spielt, sollte man eigentlich immer die übernächste Instrumentengeneration nehmen, weil man dann dem angestrebten Ideal näherkommt. Einer unserer Techniker meinte: Der Klang eines Klaviers muss immer so klingen, als wäre nach oben noch viel Luft. Sobald man die Grenze spürt, klingt er automatisch klein.

Reden die Künstler, ob nun davor oder danach, über die jeweilige Abendleistung oder ist dieses Thema tabu?

Glaner: Das kann Glatteis sein. Direkt nach dem Konzert eine Analyse abliefern zu wollen, hielte ich für anmaßend und es wäre psychologisch nicht geschickt. Der Künstler ist noch voller Adrenalin, da kann man nicht darüber reden, ob das Adagio vielleicht eine Spur zu langsam war. In der Regel warte ich, ob der Künstler meine Meinung hören will. Ich dränge mich nicht auf.

Gibt es Beispiele?

Glaner: Einmal war ich in Lugano, Martha Argerich hatte das Tschaikowsky-Konzert gespielt, wie sie es immer gespielt hat und wie sie auch ist: kraftvoll, mit Verve, eine sehr gute Aufführung. Hinterher im Auto fragte sie mich aber: Wie fandst du es denn heute? Davor hatte ich viel mit dem Pianisten Andrei Hoteev, der sich intensiv damit beschäftigt hat, auch über die Tempi von Tschaikowsky gesprochen, und die waren viel langsamer, als wir es heute gewohnt sind. Und nun saß ich da. „Super“, ging irgendwie nicht. „Hat mir nicht gefallen“, auch nicht. Also sagte ich: Die Aufführung war klasse, aber ich höre das Stück mittlerweile anders. Sie fragte, ob sie eine CD davon bekommen kann, die schickte ich ihr.

Wer wäre ein Lieblings-Pianist oder eine Lieblings-Pianistin?

Glaner: Es gibt Künstler, die sind mir sehr nah. Wo man nicht denkt, wo man einfach fühlt. Es ist gefährlich, einzelne Namen zu nennen. Aber wenn ich Igor Levit nenne, kann ich das tun, weil wir uns beim Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv kennengelernt haben, da war er gerade 18 geworden. Und er hat dort alle einfach magnetisch auf seine Seite gezogen. Sein Weg hat eine Reihe von Höhen und Tiefen gehabt, darüber hat sich eine Freundschaft ergeben, die nicht unkritisch ist, aber sehr herzlich und ehrlich.

Playlist:

  • Manhattan Transfer “A Nightingale Sang In Berkeley Square” 
  • Bill Evans/Igor Levit “Peace Piece” 
  • Dave Grusin and  GRP All Star Bigband “Cherokee” 
  • Andrea Motis & Choan Chmorro Quintet “Live at Jamboree”: “Lullaby of Birdland” 
  • Brahms „Ein deutsches Requiem“, 3. Satz: Herr, lehre doch mich. Rudolf Kempe, Berliner Philharmoniker
  • Deep Purple “Highway Star” 
  • Mahler 2. Sinfonie, Finale. Leonard Bernstein, London Symphony Orchestra 
  • Mahler / Clytus Gottwald „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ BR-Chor, Peter Dijkstra 
  • Bernstein „Candide“-Ouvertüre. Leonard Bernstein, NY Philharmonic 
  • Schubert „Erlkönig“ Vision String Quartet 
  • Strauss „Der Rosenkavalier“ 
  • Weber: Klarinettenkonzert Nr 1 f-moll, 3. Satz. Karl Leister, Rafael Kubelik, Berliner Philharmoniker 
  • Haydn: Klaviertrio E-Dur Hob. XV: 28, 1. Satz. Beaux Arts Trio 
  • Widor: Orgelsinfonie Nr. 5 op., Toccata. Daniel Chorzempa