Hamburg. Orgelbauer Philipp Klais spricht im “Erstklassisch“-Podcast über Hygieneregeln und sonstige Corona-Folgen.
Geht nicht gibt’s nicht bei Philipp Klais: Orgel-Teile, die als Puzzle in Kisten verpackt, per Hubschrauber zur Endmontage in die schottischen Highlands geflogen wurden. Eine Orgel, die man quer durch den Saal fahren kann. Und nicht zuletzt: die Orgel im Großen Saal der Elbphilharmonie. Klais‘ Bonner Orgel-Werkstatt ist eine Weltmarke, man ist seit weit 138 Jahren Familienbetrieb und Global Player zugleich. Kürzlich war Klais wieder in Hamburg, weil er die ziemlich ramponierte Orgel von St. Nikolai am Klosterstern runderneuern soll.
Hamburger Abendblatt: „Natürlich empfinden wir uns als Künstler, aber Handwerker ist für uns auch kein Schimpfwort.“ Ihre Worte über das Orgelbauer-Dasein. Wie gehen Musiker mit Ihnen um, sind Sie nur Erfüllungsgehilfe fürs Pfeifenrichten oder gibt es einen richtigen Austausch?
Philipp Klais: Wir träumen davon, dass es einen richtigen Austausch gibt. Den gibt es wirklich, mit großem Respekt, fantastischen Ideen und Anregungen. Das ist ein Geschenk für mein Leben.
Wie haben Sie die letzten Monate verbracht? Einfach in der Werkstatt weiter Einzelteile gefertigt?
Wir haben zunächst alle von allen laufenden Projekten zurück in die Werkstatt geholt. Viele „Baustellen“ waren gerade in Deutschland, und in den Kirchen, wo wir ganz allein waren, konnten wir weiterarbeiten. Aber das gesamte Konzertleben ist zurückgefahren, Stimmungen, Wartung, Pflege, alles ist nach hinten geschoben. Wir könnten aber mit einem blauen Auge davonkommen.
Kundenbesuche sonstwo in der Welt, wie sonst auch, die gehen nicht.
Gerade sind wir in der Fertigstellung einer großen Orgel in Columbus, Ohio, da haben wir Mitte März komplett die Zelte abgebrochen, mit vier Wochen mehr wären wir fertig geworden. Ähnlich war es mit dem neuen Konzertsaal in Wrocław. Aber da konnten wir vor sechs Wochen wieder hin und die Orgel fertigstellen.
Thema Corona: Die bösen Aerosole sind beim Orgeln offenbar kein Problem, schreibt der Bund Deutscher Orgelbauer. Aber: Um Himmels willen nicht mit Desinfektionsmitteln die Tasten abwischen!
Händewaschen ist das absolute A und O. Aber wir wissen nicht, welche Folgen solche Reinigungen für Tastenbeläge haben. Historische Instrumente haben Elfenbein, bei jüngere sind es Beläge aus Rinderknochen, da lösen diese Mittel fürchterliche Schäden aus.
Gibt es denn neuerdings auch so etwas wie vegane Tastenbeläge?
Spannend… so eine Anfrage hatten wir noch nie. Bei manchen Kunststoffen kann es aber zu elektrostatischen Aufladeeffekten kommen.
Ihre Firma – der Sitz ist in der Nähe von Beethovens Geburtshaus – besteht seit 1882, jetzt in der vierten Generation, Sie sind seit 25 Jahren Chef und haben Kunstgeschichte anstudiert. In wie vielen Ländern spielen mittlerweile Klais-Orgeln, haben Sie überhaupt noch den Überblick? Gibt es einen gewissen Sammeltrieb?
Unter dem Aspekt hab‘ ich das noch nie betrachtet. Wie viele Länder? Das weiß ich nicht, für mich hat das überhaupt keine Bedeutung.
Weil Sie für Spezialanfertigungen, siehe nicht zuletzt die Orgel der Elbphilharmonie, bekannt sind: Die meisten Anfragen sind aber schon im Bereich des theoretisch Machbaren?
Es gibt die gesamte Bandbreite. Oman beispielsweise… Für ein Opernhaus in der arabischen Welt eine Orgel bauen, die komplett beweglich sein soll, fahrbar insgesamt 500 Tonnen? Das habe ich mit großer Begeisterung gemacht, das ist ein sehr schönes Projekt geworden.
Bei Ihnen in der Werkstatt wurde auch eine philippinische Bambusorgel, Baujahr 1824, restauriert.
Das war ein Projekt meines Vaters, mit mehr als zehn Jahren Vorlauf. Zunächst sollte das vor Ort, in der Nähe von Manila, ausgeführt werden, um das Instrument vor dem schrecklichen Klimaschock hier zu bewahren. Wir haben dann einen großen Teil der Werkstatt umgestellt: 30 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, die Mitarbeiter hatten ihre Yucca-Palmen mitgebracht, um die in der Werkstatt aufzupäppeln. Und als dann ein Flug Verspätung hatte, hat uns der Frankfurter Zoo angeboten, die Kisten in deren Quarantäneraumen am Flughafen unterzubringen, die ähnliche klimatische Bedingungen hatten. Solche tollen, schönen Geschichten machen den Reiz von Orgelbau aus.
Verglichen damit, ist die Lieferung einer Wald- und Wiesen-Orgel für St. Fritzchen auf irgendeinem Dorf wohl eher langweilig.
Das unterschätzen Sie. Wir haben Orgeln in Kuala Lumpur gebaut, im Nationaltheater Peking, in Auckland, in Kingston auf Jamaika… Aber es ist auch sehr schön, in einer kleinen Pfarrkirche ein Instrument zu bauen, wo man dann sieht, dass die gesamte Gemeinde das mitträgt.
Angeblich stehen in Deutschland 50.000 Orgeln, was Weltrekord sein soll. Kann das stimmen?
Ich halte die Zahl für möglich, aber ich weiß es nicht.
Einige Amateurfragen, tut mir leid: Wollte ich eine Schwarzbrot-Orgel von Ihnen haben, für einen okayen Raum, muss nichts Besonders sein, soll halt orgeln. Was würden Sie mir für eine solche Orgel von der Stange in etwa auf die Rechnung schreiben?
Eine komplexe, wirklich gute Frage. In den letzten 130 Jahren haben wir so ein Serienmodell nicht entwickelt. Die Bandbreite bei Neubauten liegt zwischen, sagen wir mal: 100.000 und drei Millionen Euro. Aber die größere, teurere Orgel ist nicht unbedingt die bessere. Es kommt sehr auf die Aufgabenstellung an, auf den Raum, die Akustik. Für mich ist anderes wichtiger: Orgel und Kirchenmusik, das Empfinden von Gemeinschaft in einem Raum, das ist unendlich wichtig. Früher hatte ich immer Angst, beim Mitsingen als Einziger nicht den Ton zu treffen. Die Orgel ist wichtig, weil sie das weiche, warme, satte Bad aus Klang zur Verfügung stellt, auf dessen Basis man dann Lust empfindet mitzusingen. Und das sind die Momente, für die ein Orgelbauer eigentlich arbeitet.
Jetzt leider ganz profane Fragen: Müssen Berufsanfänger sich hocharbeiten, von den Pedalen zu etwas Richtigem? Machen alle alles bei Ihnen oder gibt es jemanden, der seit 40 Jahren einzig und allein das geschmolzene Zinn für die Pfeifen ausstreicht?
Als ich die Werkstatt übernahm, hab‘ ich gesagt: Ich möchte, dass wir alle alles machen, vom Zuschneiden des rohen Holzes bis zur klanglichen Fertigstellung. Inzwischen hab‘ ich aber feststellen müssen, dass alles von den Neigungen und Leidenschaften der Mitarbeiter abhängt. Es gibt Menschen, die eine Sache wirklich gern machen und eine andere nicht. Wir haben einen Mischweg gefunden: Auszubildende müssen durch alle Bereiche durch, danach gibt es einen Grad von Spezialisierung.
Könnten Sie eine Ihrer Orgeln blind erkennen, nur am Klang?
Nein. Bei diesen Blindtests hab‘ ich schon so falsch gelegen… Was ich einfacher finde, ist einen Zusammenhang zwischen Sprache und Musik zu hören. Wenn man einer norddeutschen Orgel begegnet, die eine sehr klare Aussprache hat, im Gegensatz zu einer rheinischen oder süddeutschen Orgel, die viel lieblicher ist und Endungen nicht so präzise artikuliert, das ist einfacher.
Weil zumindest ich hier im Norden bin und er in Hamburg so viel gebaut hat: Was ist für Sie als dessen Kollege eigentlich an den barocken Instrumenten von Arp Schnitger so toll?
Diese überlieferten Dokumente sind für uns unendlich wichtig, um daraus zu lernen? Ist Schnitger besser als ein anderer aus der gleichen Zeit? Das ist schwer zu beantworten. Er ist sicher einer der bekanntesten und er hat auch sehr an seinem Ruf gearbeitet. Extrem spannend. Handwerklich auf einem extrem hohen Niveau, musikalisch konsequent durchgeführt. Das sind Instrumente, die einen hohen Wiedererkennungswert haben. Heute ist das wichtig, um zu sehen, welche Dinge über Jahrhunderte hinweg die Herzen der Zuhörer erreichen können.
Als Notre Dame in Paris gebrannt hat, wie haben Sie das mitbekommen?
Ich habe es in den Nachrichten erfahren. Und es grenzt an ein Wunder, dass der Orgel dort nahezu nichts passiert ist. Der Dachstuhl über dem Orgelstandort ist komplett abgebrannt, aber dass in der Orgelbereich waren die Temperaturen meines Wissens nach nicht über 50 Grand waren, erscheint mir völlig unvorstellbar. Wirklich beeindruckt hat mich, dass Menschen auf der Straße, die wohl nicht mehr jeden Sonntag in die Kirche gehen, in den Straßen rund um Notre Dame gesungen haben. Diese Sehnsucht, diese Bedeutung, die das gehabt hat, das hat mich tief berührt.
Und dann, wenige Monate später, die Kathedrale von Nantes. Diese Orgel ist zerstört.
Extrem bedauerlich. Ein verlorenes Kunstwerk.
Beethoven, Ihr Bonner Quasi-Nachbar, wurde schon mit 14 Hoforganist, hat aber trotzdem nichts für Orgel komponiert. Wie schade ist das?
Das finde ich sehr bedauerlich! Aber auf der anderen Seite: Er wird seine Gründe gehabt haben.
Vielleicht nach der Devise „Ich war jung und brauchte das Geld“; er war dann froh, als er mit 16 aus Bonn rauskam und sagte sich, endlich muss ich nicht mehr orgeln, jetzt mache ich etwas Richtiges.
Das klingt sehr bitter, aber es kann unter Umständen so gewesen sein.
Gibt es eine Tradition, dass Sie - immer hinten an der dritten Pfeife von rechts - eine kleine Signatur hinterlassen, um sich zu verewigen?
Das ist bei Orgeln ähnlich, und diese Stellen müssen natürlich so verborgen wie möglich sein. Wir haben eine Orgel von Johann Heinrich Mundt restauriert, 1671 gebaut, da haben wir uns riesig gefreut, als wir eine Bleistift-Widmung gefunden haben.
Und was schreiben Sie so rein, wenn keiner aufpasst?
Bei uns machen das die Teams, die die Orgel in der Werkstatt gefertigt und draußen aufgebaut haben. Es kommt auch schon mal vor, dass jemand die Sehnsucht empfindet, ein Instrument einem Pop-Musiker oder einer Pop-Musikerin zu widmen. Zum Glück weiß ich das dann nicht (lacht).
Möchten Sie im nächsten Leben womöglich Geigenbauer werden?
Ach, wissen Sie, was ich an der Orgel so spannend finde: die äußere Erscheinung, die Konzeption… Irgendwie sind Geigen doch sehr ähnlich. Einem Geigenbauer zieht es jetzt die Schuhe aus, aber das Reizvolle ist die unendliche Bandbreite – ein Instrument, dass man auch als Skulptur im Raum empfinden kann, das so vielen Entwicklungen unterworfen ist… Dann würde lieber Dirigent werden. Auch für Geigenbauer habe ich einen Riesenrespekt. Aber ich bin doch lieber Orgelbauer.