Hamburg. Schlagwerker Grubinger tritt 14-mal beim SHMF auf. Ein Gespräch über Frustabbau am Instrument, Politik und Klassik-Jetset.

Martin Grubinger konnte schon als kleiner Junge jonglieren und hat von einer ganz speziellen Kuhglocke aus Versehen ein Dutzend Exemplar in seinem Instrumentenlager, außerdem schreibt er regelmäßig Zeitungskolumnen, in denen er auch für die Vereinigten Staaten von Europa plädiert. Der österreichische Schlagzeuger hat offenbar immer und gern alle Hände voll zu tun, vor allem bei seinen Konzerten. In Kürze ist er für eine Roadshow mit zwei Lastwagen voller Instrumente beim Schleswig-Holstein Musik Festival zu Gast.

Für Frustabfuhr wegen ausgefallener Konzerte gab es seit März nichts Besseres, als Schlagzeuger zu sein, oder?

Martin Grubinger: Stimmt, ich hab‘ tatsächlich einige Male Traurigkeit, Frust und Wut über die vielen ausgefallen Projekte bei diversen Schlagzeug-Werken ausgelassen. Aber ich lebe auf dem Land, da kann man vieles tun: aufs Rad gehen, den Berg hochlaufen, in den Attersee springen …

Haben Sie die geplatzten Termine mitgezählt oder irgendwann aufgehört?

Grubinger: Es sind um die 60 Konzerte, die bislang nicht stattfinden konnten, und ich fürchte, es werden noch einige mehr.

Geigerin Patricia Kopatchinskaja hat mir gesagt, sie sei in ein Corona-Loch gefallen. Ging es Ihnen auch so?

Grubinger:Ich hätte mit dem Israel Philharmonic spielen sollen, da war dann Lockdown. Zunächst habe ich gedacht, vielleicht gibt mir das die Zeit, um etwas mehr zur Ruhe zu kommen, mehr Zeit für meinen Sohn und die Familie zu haben. Aber nach den ersten Wochen habe ich gespürt, dass das Corona-Problem für uns Künstler viel tiefer geht. Bei vielen gibt es die wirtschaftliche Sorge, aber es geht auch um eine mentale Verfasstheit, die schwierig ist. Wir sind gewohnt, dem Publikum alles, wofür wir brennen, mit unserer Musik näher zu bringen. Ist man mal in diesem Kreislauf, ist das wie eine Droge, man braucht es immer wieder. Das Hochfahren jetzt ist aber auch gar nicht so leicht, motiviert zu sein, Ideen zu entwickeln. Unseren Beruf, wie wir ihn kennen, gibt’s derzeit einfach nicht.

Das Glück im Unglück, dass Sie oft Solo-Konzerte spielen, hilft auch nicht weiter.

Grubinger: Ich habe viele unterschiedliche Formate in meinem Repertoire, aber nichts passt wirklich in die Corona-Situation.

Eine ganz praktische Frage: Haben Sie noch den Überblick über Ihren sicher nicht kleinen Instrumentenbestand? Wie viele Quadratmeter Lagerfläche sind das inzwischen?

Grubinger: Das ist ein positiver Aspekt: Ich hatte in den vergangenen Wochen wirklich Zeit, Instrumente zu zählen und das Lager völlig neu zu ordnen. Jetzt ist es paradiesisch. Kein Schlagzeuger auf der Welt hat ein so perfekt geordnetes Lager. Es sind 970 Instrumente, alle fein säuberlich geordnet. Mein Proberaum hat 200 Quadratmeter, mein Lager hat 250 Quadratmeter. Es ist alles repariert, alles geputzt, alles poliert. Sieht jetzt aus wie im Museum. Das war noch nie so gut in Schuss wie jetzt.

Sobald ich in meiner Platten-Sammlung etwas suche, bin ich überrascht, was ich alles auf dem Weg dahin finde…

Grubinger: Den einen oder anderen Euro hätte ich mir bei meinen Anschaffungen tatsächlich sparen können, wenn ich besser geordnet gewesen wäre. Die Kuhglocke Fis Drei – man kann sich Kuhglocken über drei Oktaven bestellen – die hab‘ ich zwölfmal. Ich hatte immer gedacht, ich hätte keine mehr.

Wie bekommen Sie den ganzen Spaß von A nach B? Mit einem eigenen Fuhrpark?

Grubinger: Genau. Wir haben einen Truck und ich habe zwei Fahrer, die die Instrumente auch zu den Reparaturen bringen.

Geiger erkennt man am Fleck am Hals, wo die Geige aufliegt, Klarinettisten an der Daumen-Hornhaut. Und Ihre Hände sind so verdellt wie die eines Profi-Torwarts?

Grubinger: Die sehen nicht schön aus. Wir haben einen Punkt auf der Mitte der Handfläche, die Hände sind oft verletzt, aufgerissen, manchmal auch gebrochen.

Wegen der für Ihren Job notwendigen Unabhängigkeit aller Arme und Füße: Können Sie jonglieren?

Grubinger: Das war Teil der Ausbildung. Mein Vater, der Schlagzeuger ist, hat schon sehr früh, als ich vier, fünf Jahre alt war, viel Wert darauf gelegt. Nicht nur mit Bällen, auch Jonglieren auf einer Slackline, auf einem Baum oder Ast. Das war Teil der Übeprogramme. Ich mach das jetzt auch mit meinen Studenten.

Sie spielen alles auswendig. Erarbeiten Sie sich das wie eine Choreographie?

Grubinger: Meistens memorisiert man das, indem man viele Schlagfolgen so oft langsam übt, bis man es aus dem Unterbewusstsein heraus spielt. Es ist aber auch so, dass man wirklich Ton für Ton abgespeichert hat. Ich glaube aber auch, dass diese Musik, besonders bei Uraufführungen, eine ganz andere Wirkung entfaltet, wenn man nicht die Barriere der Notenständer zwischen sich und allen anderen hat, wenn man ganz direkt interpretieren kann. Und es macht mir einfach auch mehr Spaß.

Haben Sie als Nicht-mehr-Tutti-Schlagzeuger noch Sehnsucht nach den guten alten großen Auftritten, den Pauken-Soli in Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ oder dem Riesen-Hammer in Mahlers 6.?

Grubinger: Ich liebe das! Es kommt auch öfter vor, dass ich bei Solo-Konzerten mit Orchester frage, ob ich im zweiten Teil im Orchester mitspielen kann, dann spiele ich halt die Triangel bei Mahler 1 oder das Becken bei „Pini di Roma“.

Demnächst sind Sie hier oben, beim „Sommer der Möglichkeiten“ des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Was ist da genau geplant?

Grubinger: Normalerweise war es so: Großes Konzert, Sparkassen-Arena Kiel, wir gehen früh rein, bauen auf, Soundcheck, Probe, abends Konzert. Vor 20 Jahren, als ich zum ersten Mal beim SHMF war, habe ich in Emkendorf gespielt. In den ersten Jahren war ich relativ oft in kleineren Orten. Jetzt haben wir zwei Tieflader, eine schöne Bühne, da wird das Instrumentarium reingeschraubt und wir können uns ganz schnell von einem Ort zum nächsten bewegen.

Sie wohnen in der Nähe von Salzburg. Die Salzburger Festspiele – anders als fast alle – spielen in diesem Sommer. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Grubinger: Ich bin nicht ganz objektiv, weil ich selbst dort im Großen Festspielhaus auftreten werde. Die Festspiele sind ein Leuchtturm, der auch zeigt, dass Dinge möglich sind. Aber es ist auch ein sehr, sehr wilder Ritt, ein Grenzgang. Salzburg hat auch eine Verantwortung. Wenn das schiefgeht, werden in Österreich vermutlich viele Konzertsäle, Theater und Opernhäuser im Herbst geschlossen sein oder nur bedingt öffnen. Es ist kein ganz einfacher Weg, es war auch keine einfache Entscheidung, ich hoffe, dass es gut geht. Wir werden uns alle bemühen, dass es zeigt, dass es im Herbst auch wieder aufwärts gehen kann.

Von Österreich – harter Schnitt - ist es nicht weit bis zum Thema Europa. Sie setzen sich sehr dafür ein und sind damit eine Ausnahme in Ihrer Branche. Viele gehen da eher unpolitisch durch ihr Leben. Können Sie das verstehen?

Grubinger: Einen Xenakis, einen Cerha, einen Schostakowitsch kann ich nicht spielen, ohne dass ich die gesellschaftlichen Hintergründe mitbeachte. Für mich hängt das zusammen. Ich kann nicht sein, von Bühne zu Bühne tingeln, den Applaus und die tollen „Momente genießen. Wir Künstler haben eine ganz große Verantwortung. Und ich glaube, dass die Zukunft in den Vereinigten Staaten von Europa liegt, dass wir hier ein einzigartiges Friedensprojekt haben. Alles andere sind entweder radikale Marktwirtschaften ohne soziale Absicherung oder Diktaturen oder Halb-Diktaturen. Denken wir an China, die Türkei, die USA, Brasilien… Europa vereint all das Gute, all das Besondere. Aber dafür muss man kämpfen. Ich habe eine Kolumne in der „Kronen“-Zeitung, da schreibe ich immer sonntags und versuche auch pointiert zu sein, sehr direkt. Einige Dinge sind mir ganz wichtig: Europa, der radikale Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus, und die soziale Komponente, auch gerade jetzt nach Corona. Viele haben sich Corona leisten können, aber die, die es davor schon schwer hatten, für die ist es jetzt noch viel schwieriger.

Was passiert, wenn dieser missionarische Eifer auf Kollegen trifft, bei denen all das links rein und rechts sofort wieder heraus rauscht? Das muss doch fürchterlich für Sie sein.

Grubinger: Ja, ist es. Wie man Beethoven interpretieren kann, damit die Welt bereist und gleichzeitig so unpolitisch sein kann… Es ist nicht jeder so gestrickt wie ich. Aber dieses Unpolitische, gerade in der klassischen Musik, das geht mir schwer auf die Nerven, das sage ich auch ganz offen. Da haben wir zu wenig Mut. Gottseidank gibt es aber auch Leute wie Igor Levit.

Neukirchen hat weniger als 3000 Einwohner. Wenn Sie aus New York, Tokio, London zurückkommen und dann ist da das Wirtshaus um die Ecke und der Schreiner – fällt es einfach, auf den Boden dieser Tatsachen zurückzukommen?

Grubinger: Die Welt von Carnegie Hall, Suntory Hall und Royal Albert Hall, die ist mir suspekter als die Blasmusik und der Schreiner und das Wirtshaus. Das ist meine Heimat, von dort komme ich. Wenn wir Mahler oder Bruckner hören, hören wir all das in dieser Musik. Deswegen ist es für mich wunderbar, wenn ich in der örtlichen Blasmusik spielen kann. Dinge diskutieren, die ganz anders sind als das, was mich davor auf Tournee beschäftigt hat, um zu verstehen: Was sind die wirklichen Probleme? Es ist nicht das Fis, etwas zu tief, oder das Ais, das etwas zu hoch war. Die Welt der Konzertsäle – wunderschön, aber auch eine Blase, die mir manchmal etwas suspekt ist. Wir bräuchten wieder viel mehr Regionalität, mehr Direktheit. Das Jetsetten ist vielleicht gar nicht so wichtig, sondern, dass wir vor Ort unserem Auftrag als Musiker gerecht werden.

Termine: „Martin Grubingers Platzkonzerte“, vom 8.-14. August beim Schleswig-Holstein Musik Festival. Infos und Karten: www.shmf.de