Hamburg. Der französische Harfen-Virtuose Xavier de Maistre spricht im Abendblatt-Podcast über Krisen, Sorgen und Hoffnungen.

Es lief bei ihm, bestens sogar. Für dieses Jahr hatte Xavier de Maistre so viele Projekte im Kalender wie noch nie. Dann kam es anders, und der französische Musiker ist nun seit Wochen mit seiner Familie zuhause, in Monaco, und klingt mal frustriert, mal wütend, aber auch optimistisch.

Nicht zuletzt, weil er trotz Corona als diesjähriger Porträtkünstler beim Schleswig-Holstein Musik Festival Termine haben wird, die zwar keine klassischen Konzerte im klassischen Sinne sein werden. Aber besser als weiterhin praktisch nichts sind sie eben auch.

Wie geht’s Ihnen da unten? Es gibt unschönere Orte, aber die Situation an sich ist ja alles andere als schön.

Xavier de Maistre: Natürlich ist alles wunderschön hier, und wenn man nicht zu sehr reflektiert, was in der Welt passiert und was auf einen zukommt, geht es mir eigentlich gut. Ich kann nur üben, nicht mehr auftreten, das fehlt sehr. Ich war noch nie so lang an einem Ort, so ganz ohne Reisen. Das ist eine große, große Umstellung.

Die Stimmungsschwankungen, die jeder von uns kennt, müssen für einen Musiker noch extremer sein. Man hat Ihnen gewissermaßen die Beine weggehauen.

Xavier de Maistre: Ja, ohne Warnung, ohne Vorbereitung. Es gibt Tage, da denkt man: Was, wenn es mit den Infektionen im Herbst wieder losgeht? Da kommen große Sorgen. Und warum dürfen Leute ganz normal im Zug nebeneinandersitzen und warum darf man nicht für weniger Leute mit Mundschutz Konzerte geben? Es ist nicht alles nachvollziehbar.

Wie ist die Situation für freie Künstler und Ensembles in Frankreich, bei denen die Krise wahrscheinlich ebenso die Kalender und die Konten leergeräumt hat wie hier in Deutschland? Gibt es staatliche Unterstützungen?

Xavier de Maistre: Alle, die an ein Haus vertraglich gebunden sind, haben es eher gut, sie werden weiter bezahlt und hoffen, dass sie bald wieder auftreten können. Und es gibt in Frankreich ein ganz gutes Netz, so dass man Arbeitslosengeld bekommen kann. International tätige Künstler werden aber überhaupt nicht geschützt. Alle Veranstalter weltweit sprechen von „force majeure“, von „höherer Gewalt“, es gibt dann Null. Und wir alle haben laufende Kosten. Zwei, drei Monate schafft man das irgendwie, aber wenn es länger dauert, ist es sehr beängstigend.

Und es gibt die Sorge, dass Subventionen gekürzt werden und dass vor allem Sponsoren für Festivals ausfallen. Dass Kultur vielleicht nicht als Priorität gesehen wird. Als Künstler macht man sich auch wegen des Reisens Sorgen. Reisen nach Asien im Herbst – wie wird das sein? Wenn Quarantäne angeordnet wird, müssen wir dann verzichten? Wir können nicht jedes Mal 14 Tage vorher einreisen, im Hotel abwarten, spielen und bei der Rückreise nochmal 14 Tage warten.

Die Künstleragenturen leiden auch sehr stark. Da werden einige nicht überleben, wenn es so weitergeht. Konzerte im Streaming zu geben, ist auch keine Lösung. Man kann ein oder zwei machen, aber das ist unbefriedigend, für Künstler und Publikum. Wir brauchen diesen Kontakt. Man kann sich umerfinden, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu machen. Im Moment dürfen wir nichts machen. Videos auf Facebook? Keine neue Erfindung. Man macht das, weil man keine andere Wahl hat.

Für den Herbst wurde ich gefragt, jedes Konzert zweimal zu spielen, hintereinander. Das alles für dieselbe Gage. Natürlich ist man bereit, aber dazu muss es auch einen politischen Willen geben und allen muss bewusst sein, dass Kultur wichtig ist. Für den Sommer – Open air, weniger Publikum, Mundschutz – gab es aber überhaupt keine Diskussion. Paff, weg damit.

Klar, Fußballspiele sind jetzt interessanter, weil da viel Geld im Spiel ist … In Monaco wird im August ein Leichtathletik-Grand-Prix veranstaltet, aber alle kulturellen Veranstaltungen sind weg! Okay, dann weiß man, wo die Prioritäten sind.

Manche Sommer-Festivals melden sich jetzt aber mit Alternativen…

Xavier de Maistre: … Ja, interessant. Salzburg hat nicht nachgegeben. Es war ein unglaublicher Druck auf allen Festivals, weil Verbier als erstes abgesagt hatte. Und Salzburg hat immer gesagt: Nein, wir warten, wir warten. Und letztendlich haben sie wahrscheinlich recht gehabt. Im Moment deutet vieles darauf hin, dass wir einen fast normalen Sommer haben können. Nur: Die Festivals sind jetzt schon weg. Die Konzerte sind alle abgesagt.

Nur die kleinen Festivals können vielleicht noch etwas retten. Ich finde das richtig. Und ich finde es auch richtig, wenn wir die Konzerte trotzdem spielen, auch wenn es vor 200 Menschen ist. Vom Opernhaus Zürich kam eine Anfrage, ob ich Anfang Juli vor 300 Leuten auftrete. Klar, sehr niedrige Gage, aber mir geht es darum, dass wir wieder anfangen! Dass wir zeigen, okay, wir sind noch da.

Erstklassisch – der Podcast mit Abendblatt-Chefreporter Joachim Mischke.
Erstklassisch – der Podcast mit Abendblatt-Chefreporter Joachim Mischke.

Wird in Zukunft mit härteren Bandagen um Auftritte gekämpft werden? In ihrer Sparte, bei der Harfe, ist es vielleicht etwas entspannter als bei den vielen Geigen und Klavieren…

Xavier de Maistre: Die Harfe ist jetzt als Instrument anerkannter. Aber wenn Orchester sagen, wir müssen bei den Solisten sparen und es gibt fünf statt zehn Terminplätze für Solisten, dann ist es zweimal Klavier und zweimal Geige und für alle anderen bleibt nur ein Platz… Es war schon hart und wird wahrscheinlich noch schwieriger.

Sie haben Politik und Wirtschaft studiert, in Paris und London. Hilft Ihnen das jetzt, um die großen Zusammenhänge dieser Krise zu erkennen?

Xavier de Maistre: Es hat mir immer geholfen, um zu verstehen, wie es läuft. Wie man verhandeln kann, mit Plattenfirmen und Veranstaltern. Ich verstehe die wirtschaftlichen Zusammenhänge sehr gut und dass ein schönes Projekt für alle tragbar sein muss. Mir wurde immer gesagt, dass man mit der Harfe keine Solo-Karriere machen kann und ich habe mich immer gefragt, warum das so ist, welches Repertoire kann man anbieten und es attraktiv machen? Das ist mir gelungen.

Sie können sich also nicht mehr vorstellen, wieder zurück an einen Büro-Schreibtisch zu gehen?

Xavier de Maistre: Klar ist mir das durch den Kopf gegangen. Ich hatte eine Studie gesehen, da hieß es, dass alle Konzerte bis Juni 2021 abgesagt werden müssten. So lang kann ich nicht warten! Natürlich könnte ich in einem Büro arbeiten, wahrscheinlich auch gut. Aber was ich jetzt entwickle, das klingt jetzt vielleicht arrogant, das hilft ja auch allen anderen Harfenisten. Ein Beruf, bei dem man nicht mehr raus kann? Das kann ich mir nicht vorstellen. Vorher, vor der Karriere wäre das möglich gewesen. Aber jetzt? Du sitzt jetzt im Büro und beantwortest Mails? Das wäre furchtbar.

Mal eine ganz praktische, unaktuelle Frage: Reisen Sie eigentlich immer mit einer eigenen Harfe von A nach B? Oder wird Ihnen jeweils eine gestellt?

Xavier de Maistre: Ich habe vier Harfen, die in Europa verteilt sind, und die, die am nächsten ist, versuche ich per Spedition zum Konzertort schicken zu lassen. Bei Übersee-Reisen werden mir Instrumente zur Verfügung gestellt. Man muss sich immer umstellen, aber das ist der Preis, den man zahlen muss, um weltweit aufzutreten.

Sie haben eine Professur an der Hamburger Musikhochschule. Wie funktioniert das jetzt?

Xavier de Maistre: Wir mussten uns ganz schnell umstellen. Am Anfang hatte ich wirklich große Bedenken. Die Studenten schicken mir Videos, dann arbeiten wir online über Whatsapp oder Skype. Beim Aufnehmen des Videos merken sie schon, wie weit sie sind. Bei guter Internet-Verbindung kann man erstaunlich gut arbeiten. Aber es kostet viel mehr Energie, weil ich nicht so viel zeigen kann. Sie waren tapfer und haben sich weiterentwickelt.

Glauben Sie, dass das Streamen auch zu neuen Formaten im Konzertbereich führen wird? Dinge, die das ganze bisherige Reisen ergänzen oder ablösen?

Xavier de Maistre: Nein. Auf keinen Fall. Am Anfang hatte ich auch, wie alle, Orchester gesehen, bei dem jeder in seinem Zuhause seinen Part gespielt hat. Aber nach zwei Wochen konnte ich das nicht mehr, ich fand es so traurig. Es sind zwar große Fortschritte gemacht worden, doch das wird die Konzertsäle nicht ersetzen.

In diesem Sommer waren Sie als Residenzkünstler beim Schleswig-Holstein Musik Festival stark eingeplant. Das Festival in dieser Form hat sich nun natürlich erledigt, nun kommt der „Sommer der Möglichkeiten“. Welche konkreten Möglichkeiten haben Sie da?

Xavier de Maistre: Wir haben uns viele Gedanken gemacht, auch über die verschiedenen Spielstätten, dass man das mischt, vielleicht mit Interviews, und persönlicher wird. Leider quasi ohne Publikum. Da müssen wir mit der Kameraführung sehr innovativ sein. Gute Qualität bei Bild und Ton, das ist mir sehr wichtig. Bei diesen ganzen Facebook-Auftritten kann ich einfach nicht ertragen, dass es vom Klang her nicht akzeptabel ist… Das ist im Moment das Beste, was wir machen können.

Gibt es etwas aus dem Musik-Leben vor März 2020, worauf Sie gut verzichten können?

Xavier de Maistre: Die letzten Jahre habe ich sehr viel gespielt. Oft hatte ich mir gedacht, es ist zu viel, aber es war zu spät, die Verträge waren da. Auf der Bühne freue ich mich aber immer, meine Musik zu teilen. Jetzt wurde ich gezwungen aufzuhören und eine Pause einzulegen. Mir persönlich hat das gut getan, auch gesundheitlich, um wieder Lust zu bekommen, auf die Bühne zu gehen. Ich habe so viel Lust darauf wie noch nie. Das ist ein wunderschönes Gefühl. Ich werde deswegen schauen, mehr Pausen einzulegen, damit ich immer wieder diese Lust bekomme. Auf eine Bühne gehen zu können, ist jedes Mal wie ein Segen. Ich hoffe, dass ich das nicht vergessen werde. Bei meinen Projekten werde ich sehr wählerisch sein und mich jedes Mal extrem freuen.

Und auf jeden Fall nicht wieder zurück an einen Schreibtisch. Nie wieder.

Xavier de Maistre: Nein, das nicht (lacht).

Die Lieblingstitel von Xavier de Maistre

  • Albeniz: „Torre Bermeja“ aus den „Piezas Características“. Xavier de Maistre (Harfe), Lucero Tena (Kastagnetten)
  • Debussy: „La fille aux cheveux de Lin“ Xavier de Maistre (Harfe)
  • Chausson: „Poème de l’amour et de la mer“
  • Liszt / Renié „Le Rossignol“ Xavier de Maistre (Harfe)
  • Arriaga: Symphonie D-Dur
  • Lana del Rey “Summertime Sadness”

Beim „Sommer der Möglichkeiten“, dem Corona-Alternativ-Programm des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) ist Xavier de Maistre als Portrtätkünstler 2020 eingeplant. Auftakt ist das „Eröffnungsfest“, das auf Gut Hasselburg ohne Publikum aufgezeichnet wird. Weitere Gäste: Sol Gabetta, Martin Grubinger, Avi Avital, Sabine Mayer, Janine Jansen und Mitglieder des NDR Elbphilharmonie Orchesters, dirigiert von Alan Gilbert.

3Sat zeigt das Konzert am 5. Juli, 20.15 Uhr, NDR Kultur sendet es ab 20.05 Uhr. Ein Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra, mit Werken von Mozart und Debussy, zeigt ARTE Concert am 6. Juli live. Dazu kommen vier „Pop-Up Konzerte“ in Meldorf, Kappeln, Bad Segeberg und Rellingen, NDR Kultur sendet sie ab dem 9. August. Weitere aktualisierte Informationen: www.shmf.de