Hamburg. Der Violinist spielt am 3. Juli im Großen Saal. Zuvor war er der erste Gast des neuen Klassik-Podcasts vom Hamburger Abendblatt.
Seine Geige hatte er nicht dabei, als er direkt von einer Probe mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester in die Abendblatt-Redaktion kam, doch das war auch nicht nötig. Denn was Christian Tetzlaff über sich erzählt, wie anschaulich er seine Aufgaben und Ziele im Dialog mit Noten beschreibt und erklärt, das allein klingt schon sehr nach Musik. Der in Hamburg geborene Geiger, seit Jahrzehnten weltweit gefeiert, ist dabei anders als die meisten Virtuosen – er übt deutlich weniger und hat sich für ein modernes Instrument und gegen eine Stradivari entschieden.
Knapp eine Stunde lang ging es bei diesem Gespräch – der ersten Folge des neuen Klassik-Podcasts "Erstklassisch mit Mischke" – um die Welt, um die emotionale Wucht eines Konzertes, seine Fingerversicherung, aber auch um die Frage, ob das Ego im Laufe der Karriere größer oder kleiner wird.
Zum Einstieg können Sie zwischen einer einfachen und einer schweren Frage wählen.
Christian Tetzlaff: Die einfache natürlich.
Was ist Ihre Geige für Sie?
Christian Tetzlaff: Mein Ausdrucksmittel.
Und die schwere Frage: Für wen spielen Sie Musik – ausschließlich für sich und alle anderen dürfen nur zuhören?
Christian Tetzlaff: Nur für mein Publikum. Ich habe ein sehr enges, persönliches Verhältnis zu allen meinen Komponisten. Viele meine ich sehr gut zu kennen: in ihren tiefsten Gefühlen, ihren dunkelsten und verletzlichsten Momenten. Und für die spiele ich auch. Die Magie meines Jobs ist, dass man etwas zum Leben wiedererweckt, was die Verbindung aller Seelen wahrhaft macht in dem Moment. So wie ich im Konzert werden möchte, ist es mein Hauptwunsch, dass die Leute gerührt und ergriffen sind von dem, was wir machen dürfen. Mein Lebensmotto: Ich versuche Kinder zum Lachen zu bringen und Erwachsene zum Weinen. Das ist im Konzertsaal möglich.
Manche Schauspieler sind sehr schnell nach Vorstellungsende raus aus ihrer Rolle. Musiker glühen oft noch nach und stehen dann weit neben sich. Wie geht es Ihnen?
Christian Tetzlaff: Das ist das eine, es gibt aber auch das Körperliche. Letzte Woche habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Elgar-Konzert gespielt, mit Riesenvergnügen für mich entdeckt. Aber weil es das erste Mal war, hatte ich ungelogen von Takt eins bis zum Schluss einen Puls von um die 160. Danach war ich wie vom Trecker überfahren.
Sie haben einmal gesagt, ein Konzert sei wie eine Explosion. Ungefährlich wäre das nicht.
Christian Tetzlaff: Man ist tatsächlich in einen anderen Körperzustand katapultiert. Inzwischen ist es aber ganz oft so, dass ich in einer Art Trance bin, wo ich die Dinge tiefer empfinde.
Sie hatten vor einigen Jahren große Probleme mit der Durchblutung der Finger. Damals haben Sie es mit Handschuh-Fingerkuppen auf den Fingerspitzen versucht. Dann ließen Sie sich Trainingsräder in Hotelzimmer stellen, um die Zirkulation auf Trab zu bringen. Für besseren Halt auf den Geigensaiten tauchten Sie Ihre Fingerspitzen in Honig. Dramatische Maßnahmen ...
Christian Tetzlaff: Ja, aber die Alternative, mit trockenen Fingern zu spielen, war schlimmer. Über Jahre habe ich gedacht: Ach, das ist bald vorbei. Jetzt ist aber alles im grünen Bereich.
Für einen Berufsmusiker, der auf seine Hände so sehr angewiesen ist, ist das doch schrecklich. Ich könnte wochenlang nicht schlafen und hätte existenzielle Ängste. Bei Ihnen war es wahrscheinlich nicht anders.
Christian Tetzlaff: Das war gar nicht so. Nur wenn ein Konzerttag kam und es lief schlecht, war ich verzweifelt, weil sich das Konzert dann nur darum drehte: Wie komme ich heute mit diesem Problem zurecht?
Können Sie – wie ein Profi-Fußballer seine Beine – Ihre Hände versichern?
Christian Tetzlaff: Ja, das kann man, ich habe eine Fingerversicherung. Die hab ich nie gebraucht. Aber mehr, weil ich gern koche. Ich schneide alles, schone meine Hände nie und mache alles, was zu Hause anfällt.
Ihr tägliches Übe-Pensum ist selten mehr als eine Stunde, vor harten Uraufführungen vielleicht auch mal zwei. Das ist der totale Gegensatz zur gängigen Vorstellung, man müsse sich unentwegt einen Wolf üben. Geht es gar nicht um die Menge, sondern um die Intensität? Ist es bei Ihnen wie mit Hundejahren: Eine Stunde Üben von Ihnen sind wie sieben Stunden von jemand anderem?
Christian Tetzlaff: Es wäre sehr überheblich, das so zu sagen. Viele Kollegen sind in jungen Jahren mit Begeisterung gestartet. Es gibt aber nicht so viele in meinem hohen Alter, die das noch mit demselben Vergnügen betreiben. Ich habe bestimmt noch 30, 40 Jahre reine Spielzeit übrig, weil ich noch nicht so viel davon weggespielt habe. Wenn ich zu Hause bin, hat mein Leben fast gar nichts mit der Geige zu tun. Das wirkliche Leben ist natürlich das Allerwichtigste. Den Feldversuch an Zehnjährigen finde ich unerträglich, wenn man sagt: Nur so, mit vier, fünf Stunden am Tag, kann das was werden. Für mich zumindest weiß ich: Eine Stunde täglich kann jemanden in dem Alter so weit bringen, dass man weiß: Ich möchte das beruflich machen oder nicht.
Je mehr Sie leben, desto besser spielen Sie?
Christian Tetzlaff: Ja. Und desto besser verstehe ich die Komponisten. Die ja auch gelebt haben.
Gibt es ein Stück, bei dem Ihnen niemand mehr noch etwas vormachen kann, bei dem Sie den totalen Durchblick haben?
Christian Tetzlaff: Das ist eine komische Kategorie. Man kann doch nur festlegen, wo ein Stück sich nicht befinden darf. Bestimmte Tempi, Dynamiken sowieso ... Das Beethoven-Konzert beispielsweise hat keine einzige Melodie im Forte. Das sagt für mich etwas über den Charakter des Werks aus. Da gibt es dann nichts zu diskutieren, und wenn jemand das forte spielt, erzählt er irgendwas anderes. Aber im Positiven gibt es nie ein Ende. Man kann immer ausdrucksvoller sein.
Gibt es Stücke oder Komponisten, mit denen Sie nicht warm werden?
Christian Tetzlaff: Für mich ist Prokofjew immer kalt, etwas vorhersehbar und manipulativ in den immer gleichen harmonischen Abschlüssen.
Anfang Juli spielen Sie alle sechs Solo-Sonaten und -Partiten von Bach an einem Abend in der Elbphilharmonie, mehr als zwei Stunden. Ist das noch ein Konzert – oder schon ein Gottesdienst?
Christian Tetzlaff: Das ist ein Gottesdienst.
Steht aber Konzert drauf.
Christian Tetzlaff: „Gottesdienst“ engt die Sache natürlich ein. Wenn wir sagen, es ist kein Konzert, sondern ein Seelendienst, dann sind wir etwas kitschiger, aber dem Ganzen auch etwas näher. Dieser Zyklus ist das Unglaublichste, was wir haben. Das ist immer etwas, was mich, Bach und das Publikum extrem zusammenschweißt.
Sie spielen eine moderne Geige. Sie hatten eine Stradivari aus Cremona, meinten aber: Ach, das tut nicht not, mit der wenige Jahre alten aus Bonn geht’s auch.
Christian Tetzlaff: Das klingt etwas salopp ... Ich hatte zwei Stradivari und eine Guadagnini gespielt, und mir schien die Geige von Peter Greiner besser. Schöner, kräftiger, vielseitiger. Dem Klischee würde ich entgegenhalten, dass es sehr viele alte Geigen gibt, die nicht klingen.
Fehlt Ihnen, dem berühmten Virtuosen, der vor dem Orchester steht, das Spielen als einer von vielen im Kollektiv?
Christian Tetzlaff: Von dieser Mentalität bin ich vollkommen frei. Wenn irgendjemand beim Brahms-Konzert nur den Ansatz einer Melodie hat, begleite ich ihn. Das ist bei uns Solisten oft ein absurdes Theater: sich fünf Meter vor ein Orchester zu stellen, seinen Part zu spielen und zu erwarten, das 100 Menschen und ein Dirigent auf jede Laune anspringen. Wenn wir einen Komponisten wie Brahms ernst nehmen, dann gibt es nicht einen Entscheider, dann muss jeder ausdrucksvoll spielen dürfen. Wenn das Wichtige im Orchester liegt, darf man noch nicht mal gestisch sagen, dass man als Solist wichtig ist. Der Gedanke, dass der eigene Klang und die eigene Meinung immer das Wichtigste sein müssten, ist absurd.
Über Lampenfieber denken Sie seit Jahrzehnten nicht mehr nach?
Christian Tetzlaff: O doch! Ich habe manchmal, unvorhersehbar, sehr starkes Lampenfieber. Das ist Tagesform. Beim Elgar neulich war das aber auch ein High. Wenn ich da cool reingegangen wäre, hätte ich sicher nicht so durch das Stück gefunden und nicht so gut gespielt. Ich stehe immer hinter der Bühne und scharre mit den Hufen. Es geht ja auch, schlicht und einfach, um das Rausfliegen beim Auswendigspielen.
Wie viele Konzerte in etwa haben Sie sicher im Kopf?
Christian Tetzlaff: Etwa 20.
Sie wurden 1966 in Alsterdorf geboren, sind dort aufgewachsen. Wie schätzen Sie die „Musikstadt“ Hamburg jetzt, nach zwei Jahren mit Elbphilharmonie, ein? Erkennen Sie die Stadt überhaupt noch wieder?
Christian Tetzlaff: Natürlich liebe ich die Laeiszhalle, heiß und innig! Da habe ich mit elf mein erstes Solo-Konzert gegeben. Mein musikalisches Empfinden stammt von dort. Aber die Elbphilharmonie ist für mich: herrlich, ein Traum. Klanglich ist sie überall, wo ich bisher war, außerordentlich, ungewöhnlich schön und gleichzeitig klar. Und vom Gefühl in dem Saal bin ich hellauf begeistert. Es ist ein Riesenschub für die Musikstadt. Für mich als Musiker ist es so schön zu sehen, dass man diesem für mich so wichtigen Teil der Menschheitsentwicklung einen ekstatischen Raum geben möchte. Das ist für eine Gemeinschaft ein wesentlicher Punkt: sich darauf zu besinnen, dass es nicht nur darum gehen kann, sinnvolle Projekte zu machen. Sondern auch wichtige seelische Projekte zu unterstützen.
Wie denken Sie als Künstler über Ihre Position in der Gesellschaft? Wie stehen Sie zur Äußerung von politischer Meinung?
Christian Tetzlaff: Im Konzert geht es in ganz wenigen Stücken darum, eine politische Aussage zu machen. Bei Hartmanns „Concerto funèbre“ weiß man, wenn er russische Revolutionslieder verwendet, dass es ein antifaschistisches Werk ist, geschrieben in den Nazi-Jahren in Deutschland. Es ist eine Warnung, aus tiefer Betroffenheit geschrieben. Brahms’ Violinkonzert würde man sicherlich nicht unter einem politischen Aspekt aufführen können. Kürzlich habe ich in Berlin auf der „#unteilbar“-Demonstration mit Isabelle Faust Bartók-Duos gespielt, aus Ländern rund um Ungarn, zu einer Zeit eines großen Nationalismus. Er hatte riesige Schwierigkeiten, nicht nur Ungarisches als spielenswert zu deklarieren. Das fand ich in dem Zusammenhang sehr passend.
Wird das Ego im Laufe der Solisten-Karriere größer oder kleiner?
Christian Tetzlaff: Das ist bestimmt sehr unterschiedlich. Wenn man als Geiger mit 20, 25 anfängt, ist der Gedanke ans „Ich muss mich beweisen“ relativ stark. Das schwindet bei mir, je länger ich es mache, weil ich weiß: Ich werde von eigentlich allen Orchestern wieder eingeladen, es gibt viele Dirigenten, mit denen ich gern arbeite, die aber auch gern mit mir arbeiten. Das nimmt die Existenzangst. Ich werde wieder eingeladen, weil ich meine musikalische Arbeit gut mache. Und das nimmt diesen Druck.
Christian Tetzlaff live: Am 3.7. spielt der Geiger im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals die sechs Partiten und Suiten für Violine solo von J. S. Bach. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse.