Hamburg. Prof. Dr. Matthias Nagel im Podcast über die psychischen Folgen der Pandemie: Auch Depressionen verlaufen stärker.
Das Coronavirus hat die Gesundheit von Tausenden schwer geschädigt – körperlich, aber eben auch seelisch, wie sich jetzt immer deutlicher zeigt. „Wir sehen ganz klar die Kollateralschäden des Lockdowns“, sagt Professor Dr. Matthias Nagel, Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie an der Asklepios Klinik Nord/Wandsbek. „Patienten, die unter Ängsten leiden, fürchten sich jetzt noch mehr.
Bei Patienten mit einer Zwangsstörung ist die Krankheit jetzt noch stärker ausgeprägt und die Zahl der Suizidversuche hat coronabedingt spürbar zugenommen“, sagt der Psychiatrie-Chefarzt in einer neuen Folge der „Digitalen Sprechstunde“, dem Podcast von Hamburger Abendblatt und Asklepios.
Corona als Grund für Aufenthalt in Psychiatrie
Bis zu 40 Prozent seiner Patienten, so schätzt der habilitierte Mediziner, würden als Grund für ihren Klinikaufenthalt Corona mindestens als einen Grund mitanführen. „Viele haben mir gesagt, dass sie die Einsamkeit nicht ausgehalten haben. Wir Menschen sind eben soziale Wesen, ohne Beziehungen gehen wir kaputt.“ In herausfordernden Zeiten wie diesen zeige sich einmal mehr, wie wichtig die Akutpsychiatrie sei. „Denn wer in der Not zu uns kommt, der ist sofort mit Menschen in Kontakt - dafür sind wir da, das fangen wir auf.“
Umso schwerer sei es seinem Team und ihm selbst gefallen, Patienten in den vergangenen Wochen und Monaten wegschicken zu müssen. „Das ist seit März leider immer wieder vorgekommen, weil wir einfach komplett ausgelastet waren.“ Selbstverständlich habe man sich immer um eine Alternative für den jeweiligen Patienten bemüht, beispielsweise um einen Platz in einer Tagesklinik.
In der Psychiatrie brauche es enorme Empathie
Dass die Psychiatrie immer noch ein „Imageproblem“ habe, dass Patienten und Personal nach wie vor oft stigmatisiert würden, das macht den Chefarzt betroffen. Viele dächten bei Psychiatrie immer gleich an den Filmklassiker „Einer flog über das Kuckucksnest“. „Das ist ja einerseits ganz witzig, andererseits ist das echt Steinzeit-Psychiatrie, also ein Bild aus den 1950er-Jahren.“
Er habe auch schon den Spruch gehört, dass jemand, der in diesem Bereich arbeite, doch „selbst einen Schatten“ haben müsse. „Dabei erlebe ich das im Alltag ganz anders. Uns begegnet so viel psychisches Elend, da muss man schon sehr stabil und gefestigt sein, um damit umgehen zu können. Gleichzeitig braucht es eine enorme Empathie, um andere Menschen durch die vielleicht schwerste Krise ihres Lebens zu begleiten. Ich würde also sogar sagen: Wir sind die Normalsten.“
In seiner Klinik, die aus über 130 Betten und zwei geschlossenen Stationen mit jeweils 22 Plätzen besteht, behandelt Professor Nagel mit seinen Kollegen vor allem Patienten, die unter Psychosen, Depressionen und an Suchterkrankungen leiden, einige von ihnen hatten oder haben Selbstmordgedanken. Rund 20 Tage beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer, für eine Therapie bei Depression setzt der Chefarzt rund sechs Wochen an. Geheilt sei man dann aber natürlich noch nicht.
Zahl der Fixierungen in der Psychiatrie rückläufig
„Beim Stichwort Psychiatrie denken viele leider immer noch sofort an Zwang und Freiheitsentzug“, sagt der gebürtige Hamburger, der in Altona aufgewachsen ist und auch heute noch in dem Stadtteil lebt. Doch gerade einmal drei Prozent der Patienten würden gegen den eigenen Willen eingeliefert, die überwiegende Mehrheit weise sich selbst ein und bleibe auch freiwillig. „Wir wollen ja niemanden einsperren, sondern eine therapeutische Allianz mit dem Patienten eingehen. Nur wenn der Patient mitmacht, hat die Behandlung auch langfristig Erfolg.“
Die Fälle von Fixierungen oder Isolation von Patienten sei in seiner Klinik seit fünf Jahren stark rückläufig. „Das ist bei uns nur als ultima ratio zulässig, also in einer akuten Situation, wenn der Patient eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellt“, sagt Nagel, der seit zehn Jahren die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Asklepios Klinik Nord/Wandsbek leitet und vorher einige Jahre an der Universität Lübeck tätig war. Eine Studie habe ergeben, dass Patienten, die eine Zwangsmaßnahme erlebt hätten, diese im Nachhinein sogar mehrheitlich akzeptierten. „Wir deuten das als Krankheitseinsicht. Nach dem Motto: Ich sehe ein, dass es in dem Moment notwendig war.“
In der Therapie setzt man stark auf Sport und Musik
Grundsätzlich verstehe sich die Klinik – der 4,5 Millionen Euro teure Neubau wurde im vergangenen Jahr eingeweiht – als „minimal-restriktiv“. „Das heißt, wir sprechen zum Beispiel nicht von Hausregeln, sondern von Vereinbarungen“, sagt der Chefarzt, der in seiner Freizeit gern an „Autos schraubt und mit dem Hund unterwegs ist“. In der Therapie setze man stark auf Sport und Musik oder andere Kreativangebote. „Wir sind patientenorientiert, das ist mir wichtig. Wir schauen, was individuell am besten hilft.“ Und was kann man tun, um hoffentlich gar nicht erst depressiv zu werden? „Treffen kann das jeden. Aber ich empfehle immer ein gesundes Leben. Und ganz wichtig: Freundschaften pflegen!“
„Die digitale Sprechstunde“ ist die erfolgreiche Gesundheits-Gesprächsreihe von Hamburger Abendblatt und Asklepios. Jede Woche erklärt ein Experte im Gespräch mit Vanessa Seifert ein bestimmtes Krankheitsbild und gibt Auskunft über Vorsorge und Möglichkeiten der Therapie. Diese Folge und alle bisherigen Episoden hören Sie auf www.abendblatt.de/digitale-sprechstunde/
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