Die Epoche des Bergbaus ist vorbei. Der französische Schriftsteller Sorj Chalandon setzt ihm in seinem aktuellen Roman „Am Tag davor“ ein Denkmal. Aber eines, von dem keinerlei Glanz ausgeht: Im Zentrum der Handlung steht das Grubenunglück am 27. Dezember 1974 in Nordfrankreich, in der Nähe von Lens, in der Zeche Saint-Amé. Damals starben 42 Kumpel. Der Erzähler des Romans war 14 Jahre alt, als sein Bruder zu Tode kam. „Räche uns an der Zeche“ lautet der Auftrag des Vaters im Abschiedsbrief an den überlebenden Sohn: Dieser Vater bringt sich infolge des Sohnestodes um. Ehe es zu überraschenden Wendungen kommt, ist der Roman ein eindringliches, trauriges Stück Bewältigungstherapie. 40 Jahre nach dem Unglück landet der nun längst erwachsene Erzähler im Gefängnis und vor Gericht. Dabei war er ja sein ganzes Leben schon im Gefängnis, aber wie tief die Schuldproblematik ist, in der er gefangen ist, offenbart sich erst jetzt. Ein erstaunliches, fesselndes Buch, da sind sich Literaturhaus-Chef Rainer Moritz und Abendblatt-Redakteur Thomas Andre in der neuen Folge des Literatur-Podcasts Next Book Please einig. In jener besprechen die beiden Kritiker auch den ersten Roman der Waliserin Carys Davies. „West“ ist eine Beschwörung des uramerikanischen Mythos vom Zug nach Westen, in die Freiheit. Zugleich erinnert der schmale und dichte Roman an die Ursünde des kolonisierten Kontinents, der seine Ureinwohner entwurzelte. Der Farmer und Maultierzüchter Bellman, verwitwet, eine zehnjährige Tochter, bricht im Jahr 1815 in Pennsylvania auf, um zu Pferde tausende Meilen weit nach Westen zu ziehen. Er hat etwas gelesen: In Kentucky seien die Überreste von mythischen Wesen gefunden worden, von Urtieren, Riesenungetümen. Das lässt ihn nicht los. Er muss los, diese Wesen finden. „West“ ist das überzeugende Werk einer bislang als Shortstory-Erzählerin in Erscheinung getretenen Autorin, das erzählökonomisch und sprachlich reduziert eine im Grunde gewaltige Geschichte erzählt: Diejenige von der Suche als Lebensantrieb, dem Getriebensein, dem Brennen für eine Idee, dem Aussteigen aus dem alltäglichen Leben, der Sehnsucht nach etwas anderem. Dieser Roman, ein Stück klassisches Literatur-Americana, handelt von den Legenden und Ursprungsgeschichten jenes Kontinents. Die Amerikanerin Rachel Kushner erzählt in ihrem neuen Roman „Ich bin ein Schicksal“ von der verurteilten Mörderin Romy Hall. Weite Strecken des Buchs spielen im Gefängnis, in dem es rau zugeht und, die meisten sitzen lebenslängliche Haftstrafen ab, eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit herrscht. Etliche originelle Figuren bevölkern die Story, in der sich in vielen Rückblenden das Leben Romys entblättert. Das Gefängnismilieu wird in grellen Farben gezeichnet, am Ende jedoch franst die Geschichte etwas aus - was das angeht, unterscheidet sich das Urteil der beiden Kritiker nicht. Ebenfalls kürzlich erschienen ist ein weiterer Titel des Rowohlt-Verlags: „Langsame Jahre“ von Fernando Aramburu. Dessen großes Spanien-Panorama „Patria“ war auch in Deutschland ein Bestseller. „Langsame Jahre“ ist im Original bereits 2012 erschienen. Der Roman ist leichter, heller als „Patria“ – und doch klingen in ihm die gleichen Themen an. Es geht um die Epoche der ETA, um den bewaffneten Kampf der baskischen Separatisten, um die Loyalitätsfalle, in die jeder Baske damals zu tappen drohte. Der Ich-Erzähler wird nach der Scheidung der Eltern als Achtjähriger zur Verwandtschaft nach San Sebastian geschickt. Dort erlebt er, wie sein Cousin Julen für die ETA rekrutiert wird und wie seine Cousine für eine ganz andere Form von (persönlicher) Freiheit kämpft. Ein kleines, skizzenhaftes Sittengemälde der ausgehenden 1960er-Jahre.
Next Book Please: Die wichtigsten Neuerscheinungen
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