Hamburg. Julian Reichelt spricht im Podcast über die Entwicklung der “Bild“, den HSV und den Vorwurf, sein Medium sei verlängerter Arm der AfD.
Mit 13 Jahren hat Julian Reichelt in seiner Schule in Othmarschen durchblicken lassen, dass er erstens die „Bild“-Zeitung" gern lese und sich zweitens sogar vorstellen könne, dort eines Tages Chefredakteur zu werden. Das muss damals für seine Mitschüler verrückt geklungen haben. Noch verrückter ist, dass es genauso gekommen ist. Der Hamburger, gerade 39 Jahre alt, ist seit März 2018 alleiniger Chefredakteur der größten deutschen Tageszeitung.
Im Abendblatt-Podcast „Entscheider treffen Haider“ spricht er nicht nur über seine frühe Liebe zu „Bild“ und dem HSV, sondern auch über seine Verachtung für die Führung der AfD, über Kritiker, das Arbeiten am Limit – und über eine seltsame Einladung beim G20-Gipfel in Hamburg.
Das sagt Julian Reichelt über …
… G20 in Hamburg und ausbleibende Verantwortung für politisches Versagen:
„Das Schockierendste waren für mich die Bilder der brennenden Autos auf der Elbchaussee. Ich bin in der Nähe groß geworden. Die Elbchaussee ist einer der friedlichsten Orte, die es in Hamburg gibt, und einer der letzten Orte, die man mit so einem Gewaltexzess und dem Kontrollverlust des Staates in Verbindung bringen würde. Ich erinnere mich an den Freitag, an dem die Ausschreitungen am heftigsten waren: Mich rief jemand an und fragte, ob ich nach dem Konzert in der Elbphilharmonie für die Staatsgäste nicht noch Lust hätte, mit Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz und dem New Yorker Bürgermeister etwas essen zu gehen. Worauf ich gesagt habe: Ich bin nicht da, ich bin nicht in der Elbphilharmonie an so einem Abend, und meiner Meinung nach gehört auch der Bürgermeister dort nicht hin.
Ich erinnere mich auch an einen Anruf meiner Eltern, die verzweifelt wirkten, weil der Mob die Straße zu kontrollieren schien. Ausgerechnet in Hamburg hat der Mob bewiesen: Wenn er die Straße will, dann kriegt er sie. Das hat nachhaltigen Schaden angerichtet, genau wie die Tatsache, dass niemand dafür politische Verantwortung übernommen hat. Es gibt sowieso eine Entwicklung in der Politik, dass Verantwortung für Versagen nicht mehr ausgeübt wird. Das hat auch etwas mit der schwindenden Deutungshoheit der Massenmedien zu tun.“
… die Freude von Politikern über die schwindende Macht von traditionellen Medien:
„Die Politiker realisieren immer mehr, dass soziale Medien ihnen die Möglichkeit geben, an traditionellen Medien vorbeizukommunizieren. Und klammheimlich freuen sie sich auch darüber. Sie sehen nicht, dass wir Journalisten am Ende auch das Fundament bilden, auf dem Demokratie funktioniert. Eine Übernahme der Medienlandschaft durch soziale Medien würde nach meiner Überzeugung die Demokratie nicht überstehen.“
… die Arbeit als (Kriegs-)Reporter und eigene Limits:
„Mir fehlt die Arbeit als Reporter immer wieder ganz wahnsinnig. Ich habe das geliebt, auch wenn es angesichts der vielen schlimmen, deprimierenden Dinge, die ich gesehen habe, fast ungehörig erscheint, das Wort geliebt zu verwenden. Allerdings habe ich auch gesehen, dass ich das nach zehn Jahren in Kriegsgebieten kräftemäßig nicht mehr leisten kann. Ich war am Limit, und leicht überspitzt gesagt habe ich auch gemerkt, dass ich alt werde.“
… die Entsendung von acht „Bild“- Reportern zu den Waldbränden in Brasilien:
„Das macht die Marke „Bild“ aus. Wir sehen uns da gleichauf mit der „New York Times“ und CNN, und gucken nicht, was die nationale Konkurrenz tut. Wir gucken, was die wichtigsten Medienmarken der Welt machen, wenn es eine große Lage gibt. In der Liga sehe ich unseren Anspruch, bei der Berichterstattung über die Brände in Brasilien sind wir diesem Anspruch mehr als gerecht geworden. Dafür geben wir mehr Geld aus als früher. Und mich macht es stolz zu sehen, dass junge Menschen diesem Geist folgen, den ich zu „Bild“ zurückgebracht habe.“
… „Bild“-Kritiker:
„Es gehört zum Selbstverständnis von „Bild“-Kritikern, „Bild“ nie zu lesen. Bevor diese Leute Gefahr laufen, dass ihr Weltbild an der Realität und an Fakten zerschellt, blenden sie diese lieber aus. Das Weltbild der meisten „Bild“-Kritiker beruht auf einem uralten Buch von Günter Wallraff.“
… Konkurrenten, die Bezahlangebote von „Bild“ übernehmen und auf ihren Plattformen kostenlos verbreiten:
„Das ist nichts anderes als organisierte Kriminalität beim Thema geistiges Eigentum. Es gibt Medienmarken, die konzeptionell die Bezahlangebote von anderen Medienmarken übernehmen, um sie auf ein entgegengesetztes und zerstörerisches Modell zu optimieren, nämlich auf Reichweitenvermarktung. Es geht mir dabei nicht um das Zitieren von wichtigen News, sondern darum, dass solche Marken Geld mit den Leistungen anderer Leute verdienen.“
… Journalismus, der etwas wert sein muss:
„Wir merken glücklicherweise, dass es eine Bezahlbereitschaft für Journalismus im Internet gibt. Warum machen wir „Bildplus“? Erstens, weil die Journalisten, die wir beschäftigen, bezahlt werden müssen. Zweitens ist da ein gewaltiger Schuss Überzeugung mit drin: Denn natürlich fragen sich Leute, was für ein Selbstbild wir Journalisten haben, wenn wir für unsere Arbeit kein Geld nehmen. Wir wären die einzige Branche, die für ihre Arbeit kein Geld verlangt.“
… den sehr frühen Wunsch, „Bild“-Chefredakteur zu werden:
„Ich wollte schon mit 13 Chefredakteur der „Bild“-Zeitung werden. Meine Eltern haben sich bei „Bild“ kennengelernt, ich habe da eine genetische Vorbelastung. Bei mir zu Hause war all das, was in Sachen „Bild“ in anderen Familien verpönt war, das Größte. Als ich das erste Mal in der Schule gesagt habe, dass ich „Bild“ gar nicht so schlecht finde und mir vorstellen könnte, dort Chefredakteur zu werden, hat das nicht nur Begeisterung ausgelöst. Es ist ein Geschenk, dass ich so früh wusste, was ich werden will. Ich habe mit sieben Jahren angefangen, „Bild“ zu lesen. Das war für mich von Anfang an so eine tiefe Faszination, dass ich keinen Tag daran gezweifelt habe, was ich machen will, und noch keinen Tag meines Lebens ungern zur Arbeit gegangen bin. Ich wollte auch nichts anderes, ich wollte nicht zum „Spiegel“ oder zur „Süddeutschen Zeitung“, ich wollte zu „Bild“.“
… den Alternativjob Möbelpacker:
„Ich habe auch mal überlegt, was ich außerhalb des Journalismus machen würde. Mein liebster Alternativjob ist Möbelpacker, weil man in den intimsten Lebensbereich von anderen Leuten kommt – und man ist immer an der frischen Luft, hat körperlich was zu tun.“
… den Moment, in dem er „Bild“-Chefredakteur wurde:
„Das hieß anfangs ein bisschen anders, hatte ja den Fantasietitel „Vorsitzender der Bild-Chefredaktion“, weil es damals noch eine Zweiteilung gab. Um ehrlich zu sein, war mir klar, dass die Marke „Bild“ in der Führung keine Ambivalenz verträgt.“
… den Vorwurf, „Bild“ sei der verlängerte Arm der AfD:
„Das ist eine Unverschämtheit. Eine solche Aussage sollte sich genauso für Wissenschaftler verbieten wie für Menschen wie Michael Spreng, der lange Jahre als „Bild-am-Sonntag“-Chefredakteur sehr gut von dieser Marke gelebt hat. Man kann das nur behaupten, wenn man bereit ist, Fakten zu ignorieren.
Ich selber habe mich immer wieder so etwas von klar gegen die AfD positioniert. „Bild“ ist übrigens die einzige Marke, in der man kein AfD-Interview finden wird. Ich finde, die AfD bekommt absurd viel Airtime in deutschen Talkshows. Ich möchte diesen Leuten keine Plattform geben. Für mich war der Wendepunkt, als Alexander Gauland die Nazizeit als Vogelschiss der Geschichte bezeichnet hat. Es ist eine solch ekelhafte Relativierung des Holocausts, die so nah an Holocaust-Leugnung rangeht, wie es nur geht, ohne sich in unserem Land strafbar zu machen.
Für mich war die AfD auch vorher keine normale Partei. Aber von dem Moment an hat sie alles verlassen, was es in Deutschland an gesellschaftlichem Konsens gibt. Ich kann durchaus sagen, dass ich die politische Führung der AfD tatsächlich verachte. Wenn Björn Höcke auftritt, schafft er es, in Habitus und Mimik an das Dritte Reich zu erinnern. Das ist ein Spiel, das mich abstößt.“
… seine Radikalität:
„Ich bin radikal freiheitlich und radikal an den Fakten orientiert. Und in den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, bin ich vermutlich sehr radikal.“
… Emotionen in der Politik:
„Es ist gut, wenn verantwortungsvolle Parteien Vernunft und Fakten in den Mittelpunkt stellen. Aber zu sagen, wir bedienen Instinkte und Gefühle gar nicht mehr, führt für Massenbewegungen – und für Massenmedien übrigens auch – in den Untergang. Viele Wähler haben die Schnauze davon voll, dass die Themen, die sie bewegen, von den Volksparteien nicht angenommen werden. Man muss die Massenemotionen adressieren, ohne sie populistisch zu instrumentalisieren.“
… den HSV:
„Der HSV ist eine große Liebe und eine lebenslange Lehre, wie man mit Enttäuschungen umgeht. Es gab ein paar große Momente, aber es endete routinemäßig über Jahrzehnte in bitterer Enttäuschung. Das Spektakulärste, was ich als HSV-Fan miterlebt habe, war die Relegation und dann später doch den Abstieg in die Zweite Liga. Und trotzdem ist es so, dass der HSV, was die Reichweite angeht, für „Bild“ der wichtigste Verein nach Bayern, Dortmund und Schalke ist. Was daran liegt, dass der HSV auch in der Zweiten Liga zu Fehlentscheidungen und absurden Entwicklungen fähig ist, für die man als Drehbuchschreiber Ärger bekommen würde. Die Produzenten würden sagen: Das ist nun wirklich etwas sehr dick aufgetragen …“
… Klima-Aktivistin Greta Thunberg und die Frage, was jeder gegen den Klimawandel tun kann:
„Mich erstaunt, dass Greta nicht zu Fuß über den Atlantik gegangen ist – nach der Berichterstattung über sie bin ich davon ausgegangen, dass sie dazu in der Lage sein müsste. Es wäre naiv zu sagen, dass Greta nur ein Mädchen wäre, das eine bessere Welt möchte. Greta ist aktuell einer der mächtigsten Menschen der Welt, mit einem Apparat im Hintergrund, der keiner wirklichen Kontrolle ausgesetzt ist. Entweder ist sie das größte politische Talent aller Zeiten, das kann sein, oder sie hat sehr professionelle Leute hinter sich. Ich finde es absurd, wenn Erwachsene Greta als Heilige betrachten. Ich würde übrigens immer noch für vier Tage nach New York fliegen, da bin ich sozusagen Klimarealist. Es gibt einen Punkt, an dem das eigene Verhalten irrelevant im globalen Maßstab ist.“
… Chefs, die schreien:
„Ich kann schon impulsiv werden, aber nur dort, wo ich das Gefühl habe, dass wir unseren journalistischen Ansprüchen und den Ansprüchen, die wir an die Marke „Bild“ haben, aus Schludrigkeit nicht gerecht werden. Das regt mich wahnsinnig auf. Ich schreie dann nicht, ich werde sehr scharf. Ich betrachte die Arbeit von Reportern als etwas sehr Wichtiges, und nachlässiger Umgang damit macht mich rasend. Ich habe extreme Ansprüche, die manchmal einschüchternd wirken können, obwohl ich das gar nicht sein will. Ohne diese Leidenschaft geht es nicht, ohne diese Leidenschaft wird der Beruf des Journalisten nicht überleben.“
… die „Bild“-Zeitung auf Papier:
„Ich habe das letzte Jahr viel Zeit mit dem Machen der gedruckten Bild-Zeitung verbracht, weil ich das Gefühl hatte, dass wir die Zeitung ein Stück weit neu ausrichten müssten, tatsächlich auch politisch. „Bild“ war nicht mehr the peoples paper, das muss man ganz klar sagen. Jetzt sind wir es wieder. Auf Seite zwei muss stehen, was Menschen betrifft, was Politik für das Leben der Menschen bedeutet. Seit wir zum Beispiel das umgestellt haben, merken wir einen Effekt auf die Entwicklung der Auflage. Deshalb haben wir auch so viele Geschichten aus dem Themenbereich Rente auf der Titelseite. Das ist kein Zufall, das ist Strategie.“
… den Einstieg des Investors KKR bei Axel Springer:
„Ich glaube, dass wir mit KKR die Chance haben, aus „Bild“ etwas zu machen, das die nächsten Jahrzehnte halten wird. Daran arbeiten wir.“
… die Frage, wie er runterkommt:
„Ich muss nicht runterkommen, ich bin gerne so.“