Hamburg. Der Bezirksamtsleiter, Architekt und Stadtplaner verrät im Podcast, warum der Blick zurück lohnt – und was der nach vorn bringt.

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Was haben Schnelsen und Harvestehude gemeinsam, das Generalsviertel und das alte jüdische Quartier am Grindel, das beschauliche Niendorf und das pulsierende Univiertel? Sie alle verbindet der gemeinsame Bezirk: Eimsbüttel, ein Kunstprodukt der Nachkriegszeit aus Hamburger Stadtteilen und früheren schleswig-holsteinischen Landgemeinden, hat keine gemeinsame Geschichte, aber eine gemeinsame Zukunft. Nach sieben Jahrzehnten ist eine gemeinsame Identität der Eimsbütteler gewachsen – viele bleiben am liebsten im Bezirk und ziehen höchstens von Hoheluft nach Niendorf.

Der Podcast beginnt, wo Eimsbüttel Spitze ist: im Stadtteil Hoheluft-West, dem Viertel zwischen Mansteinstraße und Hoheluftchaussee, Isebekkanal und Lokstedt. Er gilt mit 19.193 Einwohnern pro Quadratkilometer als der am dichtesten besiedelte Stadtteil der Bundesrepublik, erst dahinter folgen die Düsseldorfer Friedrichstadt, Berlin-Kreuzberg und Schwabing. Die Boheme mag es eng, die Szene liebt Dichte.

Warum bauen wir heute anders, Kay Gätgens?

Warum bauen wir heute aber anders? Warum gelingt es nicht, diese Qualität in die Gegenwart zu übertragen? Wer durch Hamburgs Neubauviertel läuft, vermisst oft diese ganz besondere Urbanität, die Gründerzeitquartiere so lebenswert macht.

Eimsbüttels Bezirksamtsleiter Kay Gätgens, selbst studierter Stadtentwickler und Architekt, hat eine Antwort: „Das Generalsviertel ist über 100 Jahre gewachsen, das lässt sich nicht mit einem Neubauviertel vergleichen.“ Vor 120 Jahren zählten Stadtteile wie Hoheluft kaum zu den beliebten Viertel, seine Mietskasernen hatten fast unmenschliche Belegungsraten von sechs bis zehn Personen auf 100 Quadratmetern. Es gab wenig Licht und Sonne. „Als ich klein war, wohnte meine Oma im Generalsviertel“, erinnert sich Gätgens.

„Wenn wir sie besucht haben, sagte mein Vater immer, wir fahren ins Nachtjackenviertel“. Erst in den vergangenen Jahrzehnten ist das Generalsviertel in den Fokus der Menschen gerückt – „allerdings auch mit dem Unterschied, dass heute eher ein bis zwei Menschen auf 100 Quadratmeter wohnen“. Früher hieß das Aufwertung, heute beklagt man es als Gentrifizierung.

"Es muss nicht immer Gründerzeit sein"

Neubauquartiere brauchen vor allem Zeit, sagt Gätgens. „Vereinfacht gesagt müssen auch Stadtteile ,abhängen‘ wie ein gutes Stück Fleisch. Das gelingt nicht von heute auf morgen.“ Er erzählt von alten Luftbildern aus den frühen 50er-Jahren. „Damals lag Eimsbüttel zerstört da. In den Sechzigerjahren war dann alles schier neu bebaut“, erzählt er in besten Hamburgisch.

„Mit der Architektursprache dieser Zeit, mit breiten Straßen, mit Zeilenbebauung. Mit Licht, Luft und Sonne.“ Auch in diesen Straßen leben die Menschen heute sehr gern: „Es muss nicht immer Gründerzeit sein. Lebensqualität hängt am Ende sehr stark von der Qualität im Quartier ab, nicht unbedingt von der Qualität einzelner Gebäude.“

Gemischte Nutzung ist der Schlüssel zum Erfolg von Quartieren

Aber wie und wann gelingt Qualität? Gätgens hält die gemischte Nutzung für den Schlüssel zum Erfolg. „Sie ist entscheidend in neuen Quartieren – darin liegt auch die Stärke der Gründerzeitviertel.“ Dabei geht es um die Nutzung der Erdgeschosse, die Leben in die Straße bringen, eine gute Nahversorgung, eine passende Infrastruktur und um „eine anständige Orientierung der Häuser zur Straße hin“. Gätgens plädiert für mehr Architekturqualität und die Unterscheidbarkeit von Gebäuden: „Man muss wissen, man geht in Hausnummer 18 rein und nicht durch die kalte Küche, wie man das in Neubauvierteln manchmal sieht.“

Allerdings hat Gätgens – auch wegen der dichten Besiedelung im Bezirk Eimsbüttel – kein echtes Großprojekt, keine Wissenschaftsstadt Bahrenfeld, keine Neue Mitte Altona, kein Kleiner Grasbrook, keine HafenCity, kein Oberbillwerder. Der 57-Jährige scheint sie nicht sonderlich zu vermissen. „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich kleinteiligere Projekte, die organisch aus dem Bestand wachsen, besser im städtischen Kontext entwickeln lassen als Großprojekte auf der grünen Wiese.“

"Es ist nicht gut, Einfamilienhäuser zu verdammen"

Im Streit um die Einfamilienhäuser, der die Republik in den vergangenen Wochen elektrisierte, bezieht er Position. „Es ist nicht gut, Einfamilienhäuser zu verbieten oder zu verdammen“, sagt der Sozialdemokrat.“ Aber so hat das mein Kollege im Bezirk Nord vermutlich auch nicht gemeint.“ Eimsbüttel verfügt immerhin über 18.000 Einfamilienhäuser unter 34.000 Gebäuden bei insgesamt 140.000 Wohnungen. „Das ist ein gewichtiger Anteil des Wohnungsbestands, gerade für Familien, und ein wichtiger Baustein.“ Pro Jahr kommen derzeit 100 bis 150 Einzelhäuser hinzu. „Und das sollte auch so bleiben.“ Allerdings müsse man die Grundstücke kleiner zuschneiden als früher.

Im Wohnungsbau sieht Gätgens den Bezirk auf Kurs: Bislang ist es Eimsbüttel gelungen, seine Zielzahl von 1050 neuen Wohnungen pro Jahr nicht nur zu erreichen, sondern zu übertreffen. „Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch in Zukunft gelingt. Die Flächen gehen uns in den kommenden drei bis vier Jahren noch nicht aus.“ Aber mit Blick auf die fernere Zukunft wird es schwieriger. Naturgemäß geraten da die Randbezirke und äußeren Stadtteile stärker in den Blick, Ecken wie Eidelstedt, Schnelsen oder Stellingen.

Stellingen bezeichnet der Bezirksamtsleiter sogar als „Hidden-Champ­ion“, als versteckte Größe. Das Gesicht des Stadtteils wird sich deutlich verändern. Bislang habe der Stadtteil kein richtiges Zentrum, nur einen kleinen historischen Kern, sagt Gätgens. Zum Einkaufen fahren die Stellinger bislang eher in die Osterstraße, nach Eidelstedt oder Niendorf. „Mit der Bebauung am Sportplatzring bekommt der Stadtteil ein kleines eigenes Zentrum mit einem Marktplatz, Geschäften, Kulturzentrum und Büros“, verspricht Gätgens.

Gätgens Idee für den Bereich zwischen Kieler Straße und Fruchallee

Ein Großprojekt verändert in Kürze auch das Niemandsland zwischen Eimsbüttel und Altona. Derzeit darbt hier ein Stück vergessene Stadt zwischen Unkraut und Gleisflächen. Mit dem Bau des Fernbahnhofs Diebsteich, einer Veranstaltungshalle und eines Stadions wird dieses Areal in den kommenden fünf Jahren neu entwickelt – und bis nach Eimsbüttel und Altona ausstrahlen: „Wenn man heute am Eimsbütteler Marktplatz steht, schaut man nach Eimsbüttel – das wird sich mit der Entwicklung am Diebsteich deutlich verändern“, sagt Gätgens.

Die groteske Asphaltorgie zwischen Kieler Straße und Fruchtallee empfindet er selbst als „hochtragisches Re­likt“ der Sechzigerjahre. „Da müssen wir ran. Diese Fläche ist ein Scharnier zwischen Eimsbüttel und Altona. Meine Vision ist, die Verkehrsfläche deutlich zu reduzieren und Raum zu gewinnen, um aus dem ehemaligen historischen Platz einen neuen, urbanen Stadtraum zu gestalten mit Geschäften, Cafés und Wohnungen, mit Grün und Aufenthaltsqualität“, sagt Gätgens. Allerdings rennt er damit nicht überall offene Türen ein. „Da muss ich die maßgeblichen Fachbehörden noch etwas überzeugen.“

"Es geht um die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten"

Mit Beiersdorf liegt ein großes Unternehmen inmitten des Stadtteils. Und dort soll es bleiben. „Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, einen Konzern mit mehr als 3000 hoch qualifizierten Arbeitsplätzen am Standort zu halten“, sagt Kay Gätgens. Bis Ende 2024 wird an der Troplowitzstraße der Beiersdorf-Campus mit einer neuen Hauptverwaltung und einem Technologiezentrum für Forschung, Entwicklung und Produktion entstehen. Der alte Sitz an der Unnastraße weicht einem neuen Quartier mit 700 bis 900 Wohnungen.

„Das ist ein Aspekt für das Gelingen der Stadt von morgen. Es geht um die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten, um kurze Wege und nachhaltige Mobilität.“ Ein großer Teil der Beiersdorf-Beschäftigten lebe in einem Umkreis von fünf Kilometern. Da kann man dann auch mit dem Fahrrad fahren. Der Beiersdorf-Umzug sei ein Stück gelebtes „Eimsbüttel 2040“. Mit diesem Leitbild plant Eimsbüttel die Stadt von morgen. Diese Debatte treibt den Sozialdemokraten um: „Das prägt mich – mir geht es um die Zukunft der Stadt und die Zukunft des Bezirks. Mit dem Leitbild Eimsbüttel 2040 haben wir Zukunft auf den Weg gebracht.“

Eimsbüttel hat als Erstes "ein räumliches Leitbild entwickelt"

Eimsbüttel hat damit Neuland betreten – und folgt dem Beispiel Hamburgs. Unter Bürgermeister Ole von Beust und Finanzsenator Wolfgang Peiner entwarf der CDU-Senat das Leitbild der „Wachsenden Stadt“ – das Motto wurde zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Darauf bezieht sich nun auch der Sozialdemokrat. „Als Erstes haben wir ein räumliches Leitbild entwickelt“, sagt Gätgens. „Eimsbüttel soll an den Schnellbahnhaltestellen, an den Magistralen, den Stadtteilzentren wachsen, aber bewusst nicht in der Landschaftsachse. Und wir müssen beachten, dass die Jobs in Eimsbüttel bleiben – da gibt es ein großes Einvernehmen zwischen Politik und Verwaltung.“

Nun wird ein soziales Leitbild folgen, das klären soll, welche soziale Infrastruktur nötig ist und wie die Menschen das soziale Miteinander gestalten möchten. Um das Leitbild zu diskutieren, lädt das Bezirksamt in allen neun Stadtteilen zu digitalen Diskussionsformaten, „damit wir nicht am grünen Tisch entscheiden, sondern mit den Bürgerinnen und Bürgern“. Corona zwingt zu neuen Wegen.

Corona erschwert die Arbeit der Behörden

Die Pandemie erschwert die Arbeit der Behörden, sehr zum Missfallen mancher Bauherren. Sie beklagen quälend langsame Arbeits- und Entscheidungsprozesse, die schlechte Erreichbarkeit der Behörden, eingeschränkte Akteneinsicht und unmögliche Ortsbegehungen. Gätgens räumt Probleme im ersten Lockdown ein, betont aber: „Wir haben durch Corona eine andere Erreichbarkeit gelernt. Wir beraten auch manches per Skype von Küchentisch zu Küchentisch.“

Sein Versprechen: „Wer wirkliche Pro­bleme hat, kann sich bei mir melden, ob per Mail oder in der Bürgersprechstunde.“ Als oberster Dienstherr sieht er seine Behörde in der Spur. „Trotz Corona seien im vergangenen Jahr mehr als 1300 Wohnungen genehmigt worden. Unsere Bauprüfer sind als Ermöglicher aufgestellt, nicht als Verhinderer.“

"Jede weitere Woche Lockdown verschärft die Situation"

Die Pandemie verändert nicht nur die Arbeit der Behörden, sondern das Antlitz der Stadt. Alle fürchten um die gewachsenen Strukturen aus Handel und Gastronomie, ob an der Osterstraße, dem Eppendorfer Weg, ob am Mittelweg oder dem Tibarg. „Ich mache mir Sorgen um die belebten Straßen im Stadtteil. Jede weitere Woche Lockdown verschärft die Situation“, sagt Gätgens. Er steht seit Langem im Austausch mit allen Beteiligten in den Stadtteilzentren.

Seine Hoffnung: „Die gewachsenen Zentren sind widerstandsfähiger und krisenfester als monostrukturierte Einkaufszentren oder die Innenstadt.“ In der Not helfe die gemischte Struktur aus inhabergeführten Läden, besonderen Angeboten und einer eigenen Identität. „Die Menschen haben sich im Lockdown wieder stärker auf ihren Kiez konzentriert. Das kann helfen.“ Gätgens: „Die Stadtteilzentren sind die Herzen der Stadtentwicklung. Das war in der Vergangenheit so und wird in Zukunft so bleiben. Sie müssen nicht nur am Leben bleiben, sondern neue Kraft bekommen.“

Trotzdem fürchtet Gätgens wie viele Stadtentwickler: „Die Stadt wird nach Corona anders aussehen als vorher.“