Hamburg. Jahn Regensburg ist derzeit die größte Überraschung im deutschen Fußball. Ein Erklärungsversuch mit Christian Keller.
Am Sonnabend muss sich Christian Keller entscheiden. Abstiegs- oder Aufstiegskampf? HSV gegen Jahn Regensburg oder der SC 04 Tuttlingen gegen den SV Wittendorf. „Das ist ein echtes Problem. Regensburg spielt ab 13.30 Uhr, Tuttlingen ab 14.30 Uhr“, sagt Keller, der aber lieber in Lösungen als in Problemen denkt.
Seine Lösung: Auf dem Weg zum Landesligaduell in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg wird Keller die erste Halbzeit des Zweitliga-Topspiels über Sky Go verfolgen, ab Anpfiff in Tuttlingen muss der 42-Jährige parallel schauen. „Das wird schon klappen“, sagt Keller.
Das Wunder von HSV-Gegner Regensburg
Geklappt hat bei Christian Keller ohnehin fast immer alles. So ist es gar nicht mal so lange her, dass auch Jahn Regensburg in ähnlichen Gefilden unterwegs war wie aktuell Tuttlingen, das von Kellers jüngeren Bruder Andreas in der Landesliga Staffel 3 trainiert wird. Vor fünf Jahren spielte auch der SSV Jahn unter Geschäftsführer Christian Keller nur in der Regionalliga Bayern – ehe in der Oberpfalz etwas passierte, das man in Regensburg heute gerne als „das Wunder vom Jahn“ bezeichnet.
„Es waren verrückte und bewegte Jahre“, sagt Keller drei Tage vor dem Spitzenspiel der Zweiten Liga im Abendblatt-Podcast „HSV – wir müssen reden“. Seit gut zwei Wochen ist der gebürtige Badenser aus Gutmadingen Privatier, nachdem er seinen zum 31. Oktober auslaufenden Vertrag nicht verlängert hat, um sich nach achteinhalb Jahren ein mehrmonatiges Sabbatical zu gönnen. Keller sitzt in seinem Haus am Bodensee und wirkt zufrieden. „Der Fußball hat diese Region in Ost-Bayern wieder zusammengeführt“, sagt er.
Es ist ein pures Understatement. Viele von den 120 Gästen, die am vergangenen Freitag beim großen Abschied im Jahnstadion dabei waren, würden eher sagen: Keller hat die Region in Ost-Bayern wieder zusammengeführt. Bis 6 Uhr morgens wurde der Abschied des Machers vom Jahn gefeiert, es wurden Reden gehalten und Geschenke übergeben. Irgendwann nachts stand Keller in einem Leopardenfell-Bademantel, den er vom Greenkeeperchef Peter Mauerer geschenkt bekommen hatte, auf der Bühne und wurde melancholisch.
Regensburg stand kurz vor der Insolvenz
Als Keller vor achteinhalb Jahren in Regensburg anfing, war der Club dem sicheren Tod namens Insolvenz gerade eben noch mal von der Schippe gesprungen. Legendär sind die Erzählungen von einer abgebrochenen Trainingseinheit, weil der Strom für das Flutlicht nach nicht bezahlten Rechnungen abgestellt werden musste. Der Umsatz betrug zwei Millionen Euro, auf der Geschäftsstelle arbeiteten ein Dutzend festangestellter Mitarbeiter – teilweise ohne Lohn.
Nach zwei Aufstiegen über zwei Relegationen hat Keller bis heute den Umsatz verachtfacht, es arbeiten 40 Mitarbeiter auf der Geschäftsstelle und der Club hat seit der Saison 2015/16 ein nigelnagelneues Stadion. „Ich habe alles erreicht, was ich mit dem Jahn erreichen wollte“, sagt Keller, der nach seinem Sabbatical sowohl beim VfB Stuttgart (als neuer Vorstandsvorsitzender) als auch beim 1. FC Köln (als neuer Sportvorstand) im Gespräch ist. Auch beim HSV wurde der Name Keller in den vergangenen Jahren schon mal diskutiert.
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Regensburg hat einen der kleinsten Etats
Doch wer verstehen will, warum Regensburg mit einem Etat, der in der 2. Liga seit dem Aufstieg 2017 immer zu den drei geringsten Etats gehört, nun unter den drei obersten Plätzen steht, der muss nicht nur Keller verstehen. Der muss auch verstehen, wie eine Nachfolgelösung gesucht und gefunden wurde.
Nachdem der frühere Dozent der Universität Heidelberg intern bereits im Januar 2020 verkündet hatte, seinen Ende Oktober 2021 auslaufenden Vertrag nicht mehr zu verlängern, wurde gemeinsam nach einer Nachfolgeregelung gefahndet. Entscheidung Nummer eins: Die Verantwortung Kellers sollte auf mehrere Schultern verteilt werden. Gesucht wurden also ein kaufmännischer und ein sportlicher Geschäftsführer.
Kellers Nachfolger ist ein Ex-HSVer
Doch wie findet man einen neuen Sportchef? In einem fünfstufigen Prozess wurden zunächst 85 Kandidaten gesichtet, von denen dann sechs ausgewählt wurden. Mit jedem dieser sechs potenziellen Kandidaten hat Keller selbst ein jeweils rund einstündiges Vorgespräch geführt. Wer überzeugte, der wurde zum persönlichen Gespräch gebeten.
Mit Roger Stilz, der frühere HSV-Co-Trainer und ehemalige St.-Pauli-Nachwuchschef, traf sich Keller nach einem Auswärtsspiel in Düsseldorf und unterhielt sich von 18 bis 24 Uhr über Fußball. Es folgte Stufe Nummer vier: ein Gespräch mit dem kompletten Vorstand. Drei Kandidaten schafften auch diese Hürde und durften sich im letzten Schritt dem versammelten Aufsichtsrat und Vorstand präsentieren. Das Trio musste 75 Minuten lang fünf Aufgaben erledigen und die Ergebnisse darlegen. Am Ende fiel die Wahl auf Stilz.
Regensburgs Geheimnis liegt in der Konstanz
„Jede Minute in einem Personalgespräch ist eine lohnende Minute“, erklärt Keller. Neben dem früheren Wahl-Hamburger Stilz, der ab dem 1. Dezember als neuer Sportchef in Regensburg beginnt, wurde auch Philipp Hausner für den kaufmännischen Bereich verpflichtet. „Wir mussten uns professionalisieren und weiter wachsen“, sagt Keller, der fest davon überzeugt ist, dass Erfolg im Fußball planbar ist. „Entscheidet ist, dass man genügend Zeit erhält.“
Diese Meinung vertritt er schon lange. Bereits 2008 promovierte er in Tübingen mit dem Dissertationsthema „Steuerung von Fußballunternehmen – Finanziellen und sportlichen Erfolg langfristig gestalten“.
Seit dem 31. Oktober hat Keller selbst zum ersten Mal in seinem Leben keine langfristigen Pläne. Sein kurzfristiger Plan: Mindestens fünf Monate Pause machen. Ab April 2022 sei er für neue Aufgaben bereit, sagt er. Und was, wenn Regensburg dann tatsächlich noch um den Aufstieg mitspielt? „Dann freue ich mich wahnsinnig“, sagt Keller. Von der Theorie, dass ein Aufstieg zu früh kommen könnte, hält er nichts. Deswegen drückt er dem Jahn am Sonnabend den Daumen, den einen. Den anderen braucht er für den SC 04 Tuttlingen.