Hamburg. Zwei Forscherinnen der Universität Hamburg erklären, wie vorgefasste Meinungen entstehen und wie man damit umgeht.
Einzelkinder sind verzogen, Friseurinnen blond, Homosexuelle krank, Fußballspieler doof, Ausländer kriminell. Krass, nicht? Und doch als Vorurteile nicht totzukriegen. Warum das so ist und was jeder Einzelne tun kann – darüber diskutieren Sozialpsychologin Juliane Degner und die Historikerin Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden.
Haben Sie selbst Vorurteile, über die Sie sich bewusst sind?
Miriam Rürup (lacht): Der Klassiker als Einstiegsfrage. Eigentlich ist es ja so: In dem Moment, in dem ich mir über das Vorurteil bewusst bin, ist es ja schon kein Vorurteil mehr, weil ich dann beginne zu reflektieren, ob ich wirklich einen Grund habe für diese Pauschalfeststellung. Insofern würde ich als normaler Mensch sagen: Natürlich habe ich keine Vorurteile. Tatsächlich dürfte ich aber von morgens bis abends mit unterschiedlichen Vorurteilen durchs Leben gehen.
Juliane Degner: Ich wollte schon sagen: Das stimmt so nicht. (beide lachen) Natürlich habe ich Vorurteile. Das ist aus psychologischer Sicht total normal. Ob wir sie haben wollen oder ob wir sie nicht haben wollen – wir haben sie. Solange es in einer Gesellschaft soziale Gruppen gibt und soziale Kategorien, werden unsere Gehirne die Informationen immer nutzen. Wie wir damit umgehen, ist aber eine ganz andere Frage.
Und über welches Vorurteil, das Sie haben, sind Sie sich bewusst?
Degner: Oh, das sind sehr viele. (lacht)
Können Sie ein Beispiel nennen?
Degner: Als Vorurteilsforscherin das nicht zu wissen, wäre komisch. Ich habe sowohl die klassischen Vorurteile zum Beispiel über die Kompetenzen von Frauen und Männern und dann auch ganz spezifische, zum Beispiel das der Niederländer (lacht, hält inne).
Warum werden wir ein Vorurteil nicht mehr los, das sich einmal festgesetzt hat? Oder ist die These schon ein Vorurteil?
Rürup: Vorurteile verändern sich tatsächlich über einen sehr langen Lauf der Zeit. Und warum man sie nicht so leicht los wird? Weil sie uns das Leben einfacher machen. Es ist einfacher, eine Welt binär zu sehen, in der es Freund und Feind gibt, ein Innen und ein Außen. Und es ist wesentlich komplizierter, wenn man alles hinterfragt. Trotzdem ist das Leben schöner, wenn wir versuchen, uns der Vorurteile zu entledigen.
Degner: Aber selbst wenn wir Vorurteile hinterfragen, sind wir nicht besonders gut darin, sie abzulegen. Also angenommen, ich komme zu Ihnen und habe ein negatives Stereotyp über Journalisten: immer schlecht informiert … Sie können sich alles Negative ja vorstellen. Die Erwartung, mit der ich dann in dieses Gespräch gehe, wird dafür sorgen, dass ich sehr leicht Bestätigung finde. Ich bin also darauf vorbereitet, Verhalten zu sehen, das zu meinen Erwartungen passt. Ich kann sogar Verhalten, das nichts mit meinem Vorurteil zu tun hat, so interpretieren. Und dann sehe ich mein Vorurteil als bestätigt, ohne zu merken, dass ich selbst für diese Bestätigung gesorgt habe. Oft kommen wir auch zu Aussagen wie ‚Ich weiß, Sie sind ja nicht alle so, aber …‘ Einzelfälle werden als Ausnahme von der Regel raus aus der Gruppe interpretiert, sodass das Stereotyp immer noch passt.
Kann man etwas tun, um vorurteilsfreier zu leben?
Rürup: Vorurteile werden erst dann zum Problem, wenn sie unser Handeln bestimmen. Dass wir ein Vorurteil haben, das uns die Welt erklärt und einfacher macht, können wir gar nicht ganz ablegen. Problematisch wird es, wenn wir aus einer Aussage wie ‚Journalisten sind schlecht informiert‘ ableiten, nie wieder mit Journalisten zu sprechen. Oder ein anderes Beispiel: Problematisch wird es, wenn man aus einer Statistik zur Ausländerdelinquenz pauschal ableitet: ‚Alle Ausländer sind kriminell.“ Als Nächstes käme dann die Handlung, Ausländern grundsätzlich nicht mehr zu vertrauen. Dann würde man ihnen beispielsweise keine verantwortungsvollen Posten geben. Damit hätte sich aus dem Vorurteil eine Handlung abgeleitet, die Menschen zurücksetzt und benachteiligt.
Degner: Als Gesellschaft können wir Regeln, Normen und Strukturen schaffen, die Chancenungleichbehandlung verhindern. Wenn wir so wegkommen von der vorurteilsbeladenen Entscheidung des Individuums, sind wir einen Schritt weiter.
Ich versuche das an einem Beispiel zu verdeutlichen. Unternehmen gehen dazu über, Bewerbungsunterlagen zu anonymisieren, um zum Beispiel Bewerber mit Migrationshintergrund nicht zu diskriminieren.
Degner: Genau. Immer dann, wenn ich weiß, dass das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu Chancenungleichheit führen kann, muss ich schauen, wie ich dieses Wissen reduzieren kann. Studien zeigen, dass Gruppen, die sonst unterrepräsentiert sind, zum Beispiel ältere Menschen auf dem Arbeitsmarkt, Frauen oder Personen mit ausländisch klingenden Namen, deutlich bessere Chancen haben, zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Denn offensichtlich wirken dann ihre Kompetenzen stärker als ihre Identität. Das Verfahren trifft aber oft auf Widerspruch bei Personalern. Starre Regeln zu definieren, würde hier zu Widerstand führen. Man muss also schauen, dass man das Vorhaben gut vermittelt. Langfristig wäre das auf jeden Fall ein Vorteil für den Arbeitsmarkt und für die Unternehmen.
Gibt es weitere Beispiele für Regeln und Gesetze, die Ihre These untermauern?
Degner: Ja, klar. Ein Klassiker, der in der Psychologie oft zitiert wird, stammt aus einer ganz anderen Domäne: aus dem Bereich der Musikorchester. Frauen waren in Orchestern immer deutlich unterrepräsentiert. Man hat sich herausgeredet, dass man in Vorstellungsrunden nur auf Fähigkeiten achtet, nicht aber auf das Geschlecht und dass Frauen dann wohl einfach die weniger exzellenten Musikerinnen sein müssten. Dann hat man Bewerber und Bewerberinnen hinter einem Vorhang spielen lassen. So hat die Jury gehört ohne zu sehen, wer spielt. Und auf einmal wurden deutlich mehr Frauen eingestellt. Das Beispiel steht für ganz viele Bereiche – zum Beispiel Mann/Frau, Ossi/Wessi ...
Rürup: Wobei es auch Umgehungsmöglichkeiten gibt, selbst wenn rechtliche Rahmenbedingungen es anders vorschreiben. So gab es den sogenannten ‚Bäder-Antisemitismus‘ in der Weimarer Republik und im Kaiserreich. Als Juden selbstverständlich in jedem Hotel an Ost- oder Nordseeküste unterkommen konnten – theoretisch. Es gab kein Gesetz, das Juden ausschloss, anders als im Nationalsozialismus. Aber Praxis war, dass, wenn Juden sich im besten Haus eintragen wollten, alle Zimmer bereits vergeben waren. Wenn man also Gruppen hat, die mit Vorurteilen handeln wollen, um eine andere Gruppe explizit auszuschließen wie aus antisemitischen Gründen die Juden, dann werden es auch Gesetze nicht regeln können, weil sich die soziale Praxis immer den Weg bahnt.
Ist es so, dass das Gehirn Fremde automatisch in eine Schublade steckt? Dass Hautfarbe, Kleidung oder Auftreten ausschlaggebend sind, wenn wir in Windeseile entscheiden über einen Fremden? Wirkt er oder sie intelligent? Sympathisch? Vertrauenswürdig?
Degner: Ja und nein. Das eine ist, dass wir darauf vorbereitet sind, Gemeinsamkeiten zu erkennen und zu mögen. Das macht uns den Alltag leichter. Wir nennen das Eigengruppenpräferenz. Ob sich daraus automatisch eine negative Einstellung gegenüber Leuten entwickelt, die nicht zu meiner Gruppe gehören, wurde früher angenommen, ist aber alles andere als selbstverständlich. Um andere wirklich abzulehnen, dazu brauchen wir mehr. Zum Beispiel das Gefühl der Bedrohung.
Rürup: Viele vermeintliche Bedrohungen existieren gar nicht, sondern basieren auf Bildern.
Degner: Das ist ganz wichtig. Es geht um wahrgenommene Bedrohungen, nicht um reale.
Rürup: Es gibt diffuse Bedrohungsszenarien, die sich nicht real fundieren lassen. Und wenn doch, fühlt man sich natürlich bestätigt. Daraus erst leitet sich die Gruppenablehnung ab. Nehmen wir die antiislamische Einstellung. Die hat nach den Anschlägen von New York (9/11) zugenommen. Das hat aber keine Grundlage im realen Islam, sondern in der politisch-islamistischen Instrumentalisierung des Islam.
Degner:Natürlich reagieren wir auch auf echte Bedrohung. Aber die ist sehr selten.
Zumindest gefühlt hat die wahrgenommene Bedrohung durch die Nutzung sogenannter Sozialer Medien massiv zugenommen.
Degner: Ich bin mir nicht sicher, ich kenne keine Studien dazu. Unsere Forschung hängt dem technischen Fortschritt notgedrungen immer etwas hinterher. Es ist auf jeden Fall leichter, Bedrohungen auszusprechen und mehr Personen zu erreichen. Es ist für Leute mit Verschwörungstheorien deutlich einfacher, andere Verschwörungstheoretiker zu finden als früher. Es ist eine Schnelligkeit und Leichtigkeit dabei, aber ob dadurch die Intensität gestiegen ist, weiß ich nicht.
Rürup: Ich stimme Ihnen voll zu. Wenn heute über Antisemitismus gesprochen wird, heißt es zwar immer, er steigt an. Was aber real zunimmt, ist eher eine neue Form des Antisemitismus, vor allem in den sozialen Medien. Das sind quasi neue Foren, in denen man offen antisemitisch auftreten kann.
Degner: Was sich verändert hat, ist eine Normenverschiebung, was man wo und wie sagen kann. Ob sich aber die zugrunde liegenden Überzeugungen geändert haben, wissen wir nicht genau.
Rürup: Auch das Erstarken der AfD hat den Diskurs dahin verschoben, dass Sachen sagbar sind vor der Kameras und vor Mikrofonen, die man sich vorher nicht getraut hätte zu sagen.
Sind Menschen mit einem geringeren Bildungsniveau anfälliger für Vorurteile? Oder ist das schon wieder ein Vorurteil?
Degner: Schöne Frage, Sie haben jetzt zwei Stunden Dozieren vor sich (lachen beide). Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Jahre, die man im Bildungsweg verbracht hat, und der Neigung, antisemitische, rassistische oder sexistische Einstellungen offen zu äußern. Der ist nicht zu leugnen. Aber: Der statische Zusammenhang ist nicht groß genug, um alles zu erklären.
Rürup: Pauschale Urteile über Gruppen können sich widersprechen ohne Ende. Ein Beispiel: Über die Juden gibt es das Vorurteil der Weltverschwörung, das heißt, sie haben nicht nur die Wall Street in der Hand, sondern ziehen auch überall die politischen Strippen. Aber dann heißt es weiter: Sie sind Schmarotzer, liegen anderen auf der Tasche, sind unsauber. Das sind sich widersprechende Stereotype, die nebeneinanderher existieren.
Zu viel politischer Einfluss, frauenfeindlich, und geldbesessen. Kaum eine Religion ist mit mehr Vorurteilen belegt als das Judentum. Woher rührt das?
Rürup: Juden und Jüdinnen sind in Europa schon immer eine Minderheit. Und auf eine Minderheit projizieren sich schneller und wesentlich herablassender solche Stereotype. Bei manchen Vorurteilen bleibt das Grundmuster bestehen – so werden Juden und Geld in verschiedenen Varianten verknüpft. Aber der Bedeutungsgehalt der Vorurteile wandelt sich.
In Hamburg wird diskutiert, die Synagoge am Bornplatz wieder aufzubauen. Bewusst historisierend, also in der Optik vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten.
Rürup: Die Idee geht in die verkehrte Richtung. 1906 errichtet, stand die Bornplatz-Synagoge für ein selbstbewusstes Judentum, das sich nicht mehr im Hinterhof versteckt.
Aber genau deshalb wäre es doch gut, die Synagoge an diesem Platz nach genau dem historischen Vorbild wieder aufzubauen. Als Zeichen und Signal gegen Vorurteile.
Rürup: Wenn man das machen würde, wäre das ein starkes Signal der Rückwärtsgewandtheit. Judentum heute ist nicht mehr das orthodoxe Judentum von damals. Das Judentum ist vielfältiger und moderner geworden. Ein historistischer Wiederaufbau würde aussehen, als wollten wir unser eigenes Stereotyp von der guten alten Zeit wiederherstellen. Aber dieses jüdische Leben gibt es heute nicht mehr. Weil es zerstört wurde und weil es heute anders ist - weltlicher und pluralistischer.
Aber ein solcher Bau wäre doch ein gutes Signal gegenüber Menschen, die dem Judentum sehr vorurteilsbeladen gegenüberstehen. Ein Signal, das lauten würde: ‚Die Synagoge ist wieder da, das Judentum ist Teil unseres Lebens. Die Synagoge gehört dazu wie der Dom oder die Kirche um die Ecke.‘
Rürup: Da stimme ich Ihnen zu. Wir sollten den Hamburgern die jüdischen Spuren deutlicher vor Augen führen. Aber dann sollten wir eher in die Simon-von-Utrecht-Straße gucken, wo das alte jüdische Krankenhaus steht, das kaum jemand wahrnimmt. Oder in die Poolstraße in die Ruine des ersten liberalen Tempelbaus, den man zu einem grandiosen Denkmal für Hamburger und Touristen machen könnte. Ein ganz besonderer Ort ist das in der Neustadt, wo der Ursprung jüdischen Lebens in Hamburg war.