Hamburg. Heute erklären eine Psychologin und ein Kriminologe, woher unsere Ängste kommen – und wie wir sie besiegen können.

Keine Angst? Schön wär’s, unmöglich ist es: Immer mehr Menschen leiden unter Angststörungen. Wie entstehen sie, was hilft dagegen? Ein Gespräch mit der Psychologin Prof. Dr. Tania Lincoln und dem Kriminologen Dr. Nils Zurawski.

Es gibt Menschen, die behaupten, vor nichts und niemandem Angst zu haben.

Zurawski: Ich finde solche Aussagen schwierig. Man kann vielleicht sagen, dass man vor niemandem Angst hat. Aber ich glaube, dass jeder Mensch Dinge oder Situationen kennt, die ihm Angst machen. Insbesondere sind bei solchen Aussagen selten Gefühle gemeint – und gerade im Umgang mit ihnen haben viele Menschen Angst, diese zu zeigen, sie zuzulassen oder über sie zu sprechen.

Lincoln: Nie Angst zu haben, wäre ungünstig, weil Angst zu haben überlebenswichtig ist. In gefährlichen Situationen kann uns Angst schützen.

Wie äußert sich Angst?

Lincoln: Körperliche Symptome sind zum Beispiel Herzrasen, Schwitzen, der Blutdruck steigt, es wird einem warm. Bei Panikattacken sind diese Symptome sehr klar. Aber es gibt auch diffusere Ängste, die sich weniger körperlich, sondern kognitiv zeigen: Etwa durch Gedanken oder Sorgen, die ein Mensch nicht abstellen kann und die ihn in seinem alltäglichen Leben behindern.

Wie werden Angststörungen ausgelöst?

Lincoln: In der Regel durch ein bestimmtes Erlebnis. Ein einfaches Beispiel: Ein Mensch bleibt in einem Aufzug stecken. Das nächste Mal, wenn er einen Aufzug betritt, wird ihm unwohl. Da würde man noch nicht von einer Angststörung sprechen. Das ändert sich, wenn derjenige erst vermeidet, Aufzüge zu benutzen, und irgendwann dann allein beim dem Gedanken an einen Aufzug Angst bekommt.

Wenn der Gedanke an etwas Angst auslöst, ist der Punkt erreicht, dass man über eine Behandlung nachdenken sollte?

Lincoln: Ja, und wenn man bestimmte Situationen vermeidet. Ein anderes Beispiel: Wenn man Angst hat, zu dick zu werden, ist das noch nicht krankhaft. Wenn aber die Gedanken deswegen ständig ums Essen kreisen, man immer Kalorien zählt, dann wird es kritisch.

Zurawski: Das Problem ist, dass so eine Entwicklung schleichend geht. Der Anbahnungsprozess einer solchen Angsterkrankung ist oft so lang, dass man es selbst kaum merkt. Wenn man es merkt, ist dann schon ziemlich viel passiert.

Lincoln: Bis der Leidensdruck so groß ist, dass man sich Hilfe sucht, vergeht ziemlich viel Zeit, im Durchschnitt ungefähr sieben Jahre. Aber das muss nicht heißen, dass die Störung an sich schleichend beginnt. Wie gesagt, gibt es oft auslösende Situationen, die den Beginn markieren.

Gibt es einen bestimmten Typ Mensch, der besonders anfällig für Angststörungen ist?

Lincoln: Ja, es gibt Studien, die belegen, dass Angststörungen genetische Ursachen haben können. Und wenn ein Kind permanent beobachtet, dass Vater oder Mutter ängstlich sind, besteht die Gefahr, dass es sich genau das abguckt. Je ängstlicher die Eltern, desto ängstlicher sind im Durchschnitt auch die Kinder. Das Temperament ist ein weiterer Faktor, aber auch das Geschlecht. Angststörungen sind bei Frauen etwas häufiger als bei Männern, wie viele andere Störungen auch, etwa Depressionen.

Warum ist das so?

Lincoln: Viele Gründe werden dafür diskutiert. Einer sind biologische Unterschiede, z.B. hormonelle Unterschiede, ein anderer, dass Frauen teils größeren psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind. Vielleicht haben Frauen aber einfach weniger Angst, psychische Probleme zuzugeben. Für Männer ist das wegen der vorhandenen Rollenbilder eine größere Schwierigkeit.

Männer sollen ja keine Angst zeigen. Wenn es bei uns zu Hause nachts mal irgendwo knarrt, sagt meine Frau zu mir …

Zurawski: … geh mal gucken. Das starke Geschlecht ist eben in solchen Situationen auch im Jahr 2018 noch das starke Geschlecht. Frauen bewerten Männer auch anhand der Frage, wie mutig sie sind. Deshalb geht der Mann nachts gucken, wo es im Haus knarrt, obwohl er selbst vielleicht Angst hat. Die Kunst besteht dann darin, sie nicht zu zeigen. Wir sind gefangen in diesen Erwartungskorsetts, die manchmal zu Unsinn anstiften, wie bei Mutproben von jungen Männern.

Kann man Angststörungen in bestimmte Gruppen einteilen?

Lincoln: Es gibt Panikstörungen, generalisierte Angststörungen, spezifische Phobien und soziale Angststörungen.

Generalisiert heißt, dass man vor allem Angst hat.

Lincoln: Das hört sich so an, beschreibt aber eher, dass ein Mensch sich permanent Sorgen in verschiedenen Bereichen macht. Am häufigsten treten die spezifischen Phobien auf, also Angst vor Höhe, Spinnen, oder dem Fliegen, darunter leidet fast jeder vierte Mensch in seinem Leben. Und danach kommen soziale Angststörungen und Panikstörungen.

Was ist der Unterschied zwischen Panik und Angst?

Lincoln: Bei einer Panikattacke tritt plötzlich sehr starke Angst auf, die mit typischen Symptomen wie Schwitzen, Herzrasen, großen Pupillen und einem Fluchtreflex einhergeht. Die Panik steigt schnell innerhalb weniger Minuten an und fällt danach auch wieder ab. Wenn jemand das häufiger erlebt und dann in der Angst lebt, erneut eine Panikattacke zu bekommen, würde man von einer Panikstörung reden.

Wie wichtig ist es für die Behandlung, zu wissen, was die Ursache der Angst ist?

Lincoln: Für die Patienten ist es wichtig, was die Ursache ist. Für die Behandlung ist es am Ende nicht so entscheidend. Dafür ist es wichtiger, dass man sich den Ängsten stellt.

Eine Gruppe, die das quasi beruflich macht, sind die Polizisten. Die müssen sich jeden Tag in gefährliche Situationen begeben und immer ihre natürlichen Ängste überwinden. Können wir von Polizisten etwas lernen?

Zurawski: Polizisten sind gut trainiert. Sie üben solche Situationen und können durch bestimmte Routinen Ängste ausschalten bzw. beherrschen. Dann sind sie fast immer in Gruppen, wenn eine Situation besonders gefährlich wird, und arbeiten schwierige Einsätze im Nachhinein auf. Polizisten werden also immer wieder mit Ängsten konfrontiert und lernen dadurch, damit umzugehen. Übrigens können wir von Polizisten lernen, was man mit einem selbstbewussten Auftreten bewirkt: Auch das kann die eigene Angst minimieren.

Frau Lincoln, Polizisten machen das, was Sie auch Menschen mit Angststörungen empfehlen. Sie stellen sich den Ängsten.

Lincoln: Man muss sich aber nicht nur der Situation stellen, sondern muss dann auch die Angst zulassen. Was wir in der Therapie erreichen wollen, ist, dass ein Patient die Angst erst richtig kommen lässt, indem er sich z.B. wirklich das Schlimmste vorstellt und seine Aufmerksamkeit auf die angstauslösenden Aspekte richtet. Man muss also richtig die Angst erleben. Um dann die Erfahrung zu machen, dass die Befürchtungen nicht eintreten und dass die Angst von allein wieder langsam nachlässt. Denn das Schöne ist, dass unser Körper gar nicht so lange so starke Angst haben kann, dafür sind wir nicht gemacht. Und nach dieser Zeit tritt eine Entspannung ein, die viele Patienten als angenehm empfinden. Fast wie Glücksgefühle.

Die Angst verschwindet von allein. Warum?

Lincoln: Der Körper ist schlauer als wir. Er merkt, dass gar nichts passiert und er deshalb nicht mehr in Alarmbereitschaft sein muss. Sonst würde der Körper unnötig Energie verbrauchen. Aber das tut er nicht. Es sei denn, es gibt wirklich eine Bedrohung. Wenn also wirklich Einbrecher im Haus sind, wird der Körper unter Spannung bleiben, was in der Situation aber nur vernünftig ist.

Wir haben jetzt über viele Maßnahmen gegen Ängste gesprochen. Gibt es auch Medikamente, die helfen?

Lincoln: Die gibt es, sogenannte Anxiolytika, z. B. Benzodiazepine. Sie wirken kurzfristig auf jeden Fall, haben aber ein hohes Abhängigkeitspotenzial. Wenn man die eine Weile nimmt, ist es sehr schwer, davon wegzukommen. Deshalb sind sie nicht zu empfehlen.

Wie gut ist Angst überhaupt heilbar?

Lincoln: Sehr gut. Die Angststörungen gehören zu den Störungen, die man mit Psychotherapie am besten heilen kann.

Gilt das auch für eine Störung, die besonders Männer betrifft, die Angst vor Krankheiten?

Lincoln: Das gilt auch für Hypochonder, die in der Therapie unter anderem lernen müssen, was passiert, wenn man die ganze Zeit in sich hineinhört oder auf ein bestimmtes Körperteil achtet.

Nämlich?

Lincoln: Wenn wir uns jetzt alle ganz stark auf unser rechtes Bein konzentrieren, wird das wahrscheinlich tatsächlich irgendwann wehtun. Oder wenn wir ans Herz denken, fängt das an zu rasen. Ganz normale Reaktionen, die Hypochonder als böse Symptome werten.

Was hilft dagegen?

Lincoln: Hypochonder gehen ja oft häufig zum Arzt. Nach einem Besuch sind sie dann erst mal beruhigt, fangen aber schnell wieder an zu zweifeln: War der Arzt gut genug? Hat er vielleicht was übersehen? Es folgt der nächste Arztbesuch, und so weiter. Das hält die Angststörung genauso aufrecht wie die ständige Konzentration auf den eigenen Körper. In der Therapie würde man dann zum Beispiel die Arztbesuche auf ein Minimum reduzieren.

Zurawski: Wobei sich gerade bei der Therapie von Hypochondern oft die Frage nach dem Restrisiko stellt.

L incoln: Das stimmt. Und dann muss man als Therapeut vermitteln: Es gibt kein sicheres Leben. Ein gewisses Restrisiko muss akzeptiert werden.

Im Gegenteil: Heute denkt man andauernd, dass das Leben irgendwie immer gefähr­licher wird.

Zurawski: … und das bei relativ hoher Sicherheit in unserer Gesellschaft. Die Menschen müssen heute unheimlich viele Informationen verarbeiten. Man wird schon unruhig, weil man all das, was minütlich über das Internet verbreitet wird, kaum aufnehmen kann. Man weiß nicht, ob und wie viel Sorgen man sich machen muss. Menschen können das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren. Auf diese Art und Weise entstehen jede Menge diffuse Ängste, die man schüren und ausnutzen kann.

Das ist das Prinzip der Populisten.

Zurawski: Angst ist generell ein machtvolles Prinzip der Politik. Populisten wissen am besten, wie man damit spielen kann. Sie sagen: Du hast Angst, und du hast zu Recht Angst, und ich zeige dir, woher die Angst kommt. Aber ich kann sie auch bekämpfen, du musst mir nur vertrauen, ich regele das für dich. Damit geben sie den Menschen, die Angst haben, aber keine Handlungsanweisung, wie es die Psychotherapeuten bei ihren Patienten tun. Sie reden dem Angstvollen ein, dass er gar nichts machen kann, und schwächen ihn in Wirklichkeit damit. Denn nun ist er voll und ganz auf jemand anders angewiesen, im wahrsten Sinne des Wortes ohnmächtig. Das ist das Tückische an dieser Art mit Ängsten umzugehen.

Lincoln: Leute unterscheiden sich darin, wie gut sie mit Unsicherheiten umgehen können. Eine Möglichkeit ist, die Ursachen bei anderen Personen zu suchen, um die eigene Unsicherheit besser auszuhalten. Einen ähnlichen Mechanismus kann man in der Gesellschaft beobachten, wenn zum Beispiel der Flüchtling als Schuldiger für die eigenen Probleme ausgemacht wird.

Zurawski: Wann ist man stark? Wenn man Teil einer Gruppe ist, die einen Sündenbock für alle ihre Probleme gefunden hat. Das gibt Menschen eine Art von Sicherheit, auch wenn die Sorgen damit nicht weniger werden.

Deshalb sind Ängste vor Migranten in Städten, in denen zum Beispiel viele Flüchtlinge wohnen, kleiner als etwa in Ostdeutschland.

Lincoln: Letztlich geht es darum, die Erfahrung zu machen, dass bestimmte Befürchtungen, die ich habe, nicht eintreten. Das ist bei der Angst vorm Fliegen nicht anders als im Kontakt mit Flüchtlingen. Wenn diese Erfahrungen immer wieder gemacht werden, lässt die Angst nach. Das belegen viele Therapiestudien sehr eindrucksvoll. Aufgabe der Politik wäre deshalb, für Bedingungen zu sorgen, die solche Erfahrungen erleichtern.

Was brauchen wir sonst noch, um ein möglichst angstfreies, psychisch gesundes Leben führen zu können?

Lincoln: Zum einen brauchen wir Kontakt mit anderen Menschen. Zum anderen brauchen wir Bewegung, Natur um uns herum. Und wir brauchen Möglichkeiten, immer wieder neue Erfahrungen zu machen. Das alles hilft.

Gibt es etwas, was Ihnen Angst macht?

Zurawski: Ich kann Spinnen unheimlich schlecht leiden.

Woher kommt es, dass so viele Menschen Angst vor Spinnen haben?

Lincoln: Man vermutet, dass das evolutionär bedingt ist. Man kann Menschen nämlich Angst beibringen, sie lehren, Angst vor etwas zu haben. Und das geht bei Spinnen leichter als zum Beispiel bei Stühlen.