Warum wir mit jedem Jahrzehnt zufriedener werden – und was die antiken Philosophen dazu sagen. Ein Erklärungsversuch.
Kaum etwas ist so sehr beschrieben und erforscht, besungen und beschworen wie das Glück – und zwar seit der Antike. Was der Unterschied ist zwischen einem Stimmungshoch und dem Lebensglück, warum wir im Laufe unseres Lebens immer glücklicher werden und was die antiken Philosophen dazu zu sagen hatten, erklären der Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UKE, Prof. Dr. Jürgen Gallinat, und der Philosophieprofessor Dr. Claus Langbehn.
Was ist überhaupt Glück?
Gallinat : Es gibt viele Definitionen – aber ich bevorzuge eine, nämlich dass das Glück ein Hochgefühl ist, das man gern behalten möchte, wenn es anwesend ist, und wenn es abwesend ist, danach trachtet, es wiederzuerlangen.
Langbehn: Auf die gestellte Frage kann man aber auch so reagieren: Wer Glück definiert, bringt sich um die Möglichkeit, weiter darüber nachzudenken, was es eigentlich ausmacht! Wer Glück definiert, erledigt das Thema professionell. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, Definitionen zunächst zu vermeiden, um in die Reflexion über das Glück einzutreten.
Dann reflektieren Sie doch mal!
Langbehn: Philosophisch hat man seit der Antike oft auch eine Anleitung zum glücklichen Leben gegeben – das ist ja eine Erwartung, die sich mit der Frage nach dem Glück verbindet. Heute geht es jedoch eher darum, den Umgang mit der Frage nach dem Glück selbst zu kultivieren. Und eben dies würde mich interessieren: schon die Komplexität der Frage selbst.
Aber wir müssen uns erst einmal darüber verständigen, worüber wir eigentlich sprechen.
Langbehn: Stimmt. Und deshalb sollten wir unterscheiden zwischen episodischem Glück und einem guten Leben, also Lebensglück im Ganzen. Episodisches Glück nehmen wir unter anderem als Stimmungshoch wahr.
So ein Stimmungshoch spürt man ja vielleicht sogar körperlich, oder?
Gallinat: Ja, es gibt eine ganze Reihe von „Symptomen“ momentanen Glücks: Das kann ein beschleunigter Herzschlag sein, ein Wärmegefühl oder ein Prickeln im Bauch. Häufig spürt der Körper das Glück und äußert dies in Symptomen, noch bevor man das als denkender Mensch wahrnimmt. Entwicklungsgeschichtlich ist das Glück bei uns sehr früh und tief angelegt. Die Evolutionsbiologie geht davon aus, dass Glücksempfindungen ganz bewusst von der Natur eingesetzt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu erzeugen und so die Überlebensfähigkeit zu verbessern.
Weiß man, was im Gehirn passiert, wenn wir glücklich sind?
Gallinat: Man kann unser Glücksempfinden durch reine Chemie triggern. Das zeigt sich am Beispiel von Drogen. Substanzen wie Kokain oder Heroin erzeugen ein kurzzeitiges Hochgefühl, das teilweise so intensiv ist, wie man es unter normalen Umständen gar nicht erleben kann. Diese Substanzen bewirken neurochemische Veränderungen im Gehirn. Sie stoßen kurzfristig künstlich das Wohlbefinden an; dieses Glücksgefühl ist aber ohne Zusammenhang mit dem Lebenskontext. Die Aktivierung der Opioidrezeptoren und der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin kann solche Glücksgefühle erzeugen.
Langbehn: Als Philosoph frage ich mich, welchen Glücksbegriff die Neurowissenschaft zugrunde legt. Dazu zwei Thesen: Wir müssen das Glück vor seiner Trivialisierung schützen, wo es darum geht, das Verhältnis von Glück und Vergnügen oder gar Spaß zu klären. Hier muss man auseinanderhalten. Die zweite These ist provokativ: Wir sollten das Glück schützen vor den Neurowissenschaften. Die Frage, wie das Gehirn funktioniert, wenn wir glücklich sind, ist nicht unbedingt eine Antwort auf die Frage, was Glück ist. Diese Ansätze erklären nur bestimmte Voraussetzungen dafür, glücklich zu sein.
Gallinat: Das sehe ich genauso. Die Neurowissenschaft ist nicht das Maß der Dinge, wenn es um lebensphilosophische Fragen geht. Aber sie versucht, experimentell an diese Fragen heranzugehen, um zu sehen, was im Gehirn passiert.
Herr Langbehn, Sie haben uns vorhin eine Anleitung zum Glücklichsein in Aussicht gestellt. Wir sind gespannt.
Langbehn: Die Idee von Philosophie als Lebenskunst stammt aus der Antike. So gesehen ist die Philosophie nicht nur ein theoretisches Geschäft. In der Moderne hat sie allerdings Abstand davon genommen, konkrete Ratschläge zu geben. Und auch heute sollten wir philosophisch nicht mit letzten Weisheiten zur Lebensführung auftreten. Aus den Augen verlieren darf die Philosophie das Leben deshalb aber noch lange nicht.
Was hatten denn die antiken Philosophen zum Thema Glück zu sagen?
Langbehn: In der Antike gab es ganz unterschiedliche Glückskonzepte. Eines besteht darin, dass wir Glück auf das Leben als Ganzes beziehen und nicht nur auf einzelne Abschnitte. Man könnte auch der Glücksauffassung von Epikur folgen: Glücklich ist schon der, der kein Leid und keinen Schmerz erfährt. Mit Aristoteles können wir die Fähigkeiten des Menschen in den Mittelpunkt stellen. Danach sind wir glücklich im besonderen Gebrauch unserer Fähigkeiten. Frei in die Gegenwart übersetzt ließe sich sagen, dass es darauf ankommt, Fähigkeiten zu entwickeln und ihnen gemäß zu leben. Auch das Verhältnis von Glück und Moral spielt in der Antike eine wichtige Rolle: Der moralische Mensch, so einige der antiken Philosophen, ist der glückliche Mensch.
Wenn wir die Lebensperspektive einnehmen, stellt sich die Frage: Wann bewerten wir eigentlich unser Leben?
Langbehn: Hoffentlich nicht erst dann, wenn es (fast) vorbei ist. Ich halte es mit denen, die vorschlagen, dass wir unser Leben schon im Leben selbst als Ganzes entwerfen, etwa indem wir uns unser Leben erzählen, Vergangenheit und Gegenwart auf eine Zukunft beziehen und so das Leben als Ganzes zumindest denken. Andererseits: Wer die Frage nach dem Glück stellt, ist verdächtig, unglücklich zu sein. Was ist bezaubernder als ein Mensch, der glücklich ist, ohne eine Antwort auf die Frage nach dem Glück zu haben?
Es gibt ja das Sprichwort, das Leo Tolstoi zugeschrieben wird: Willst du glücklich sein im Leben, dann sei es! Also alles eine Frage der Einstellung?
Langbehn: Ja. Ich glaube, an bestimmten Punkten des Lebens macht es Sinn, sich die Frage nach dem guten, glücklichen Leben zu stellen, etwa in Krisenzeiten, wenn wir mit Problemen konfrontiert sind und uns für oder gegen etwas entscheiden müssen. Ich würde aber keineswegs dazu raten, die Frage nach dem Glück in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Neugierde auf das Leben selbst und seine Praktiken – darauf kommt es an.
Ist die Art, wie wir heute Glück abhandeln – in Talkshows oder in Ratgebern –, zu vordergründig, wenn es etwa darum geht, ob Geld glücklich macht, Liebe oder beruflicher Erfolg oder persönliche Freiheit?
Langbehn: Es ist nicht verkehrt, nach den Bedingungen des Glücks zu fragen. Gesundheit und Arbeit, Bildung, ein stabilisierendes soziales Umfeld und auch Religiosität sind empirisch festgestellte Glücksbedingungen. Aber von diesen Bedingungen des Glücks müssen wir den Begriff des Glücks unterscheiden. Wer Glücksbedingungen aufzählt, setzt ja schon einen Glücksbegriff voraus.
Gibt es Menschen, die besonders zum Glück begabt sind?
Gallinat: Manche Menschen sind in der Lage, negativ gefärbte Situationen im Leben leichter zu akzeptieren als andere. Wer ein gewisses Maß an Akzeptanz hat gegenüber den Dingen, die uns allen irgendwann im Leben widerfahren, hat eher die Voraussetzung, glücklich zu sein. Wenn man hohe Ansprüche hat und diese nicht aufgeben kann, ist die Gefahr, dass man daran scheitert, sehr groß. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle Ansprüche erfüllen, ist klein – entsprechend läuft man Gefahr, darüber unglücklich zu werden. Dieser Ansprüchlichkeit kann man folgen, das ist in gewisser Weise auch Mode, oder man kann sich ihr widersetzen. Ein entscheidender Punkt für das Glücklichsein: Man muss seinen eigenen Weg finden, auf sich und seine inneren Bedürfnisse hören, seine Talente erkennen, seine Schwächen sehen und sich loskoppeln von den von außen gestellten Ansprüchen.
Hilft es, sich auf das zu fokussieren, was im eigenen Leben gut läuft, statt auf die Defizite zu schauen?
Gallinat: Dankbarkeit für Dinge, die gut laufen, ist ein positiver Prädiktor für Glück. Auch das Wissen, das Dinge enden und schieflaufen können, ist wichtig – ebenso wie die Erkenntnis, dass diese negativen Phasen zu Ende gehen und sich mit positiven Phasen ablösen. Das Wissen um diese Hochs und Tiefs, diese Haltung der Weisheit, ist ein wesentlicher Aspekt des Glücks. Fortwährend positive Gefühle gibt es nicht, das ist neurophysiologisch quasi gar nicht durchhaltbar. Entsprechend scheint ein Wechselspiel wesentlich zu sein. Vielleicht ist heute das Aushalten negativer Emotionen nicht mehr in Mode. Doch sie haben nicht nur Nachteile, sondern bereiten auch den Weg.
Psychologische Glückskonzepte beschreiben das Lebensglück als „harmonisches Zusammenwirken aller Gefühle einer gut organisierten Persönlichkeit“ – also eher als eine innere Verfasstheit.
Gallinat: Eine Harmonisierung von Emotionen spielt eine große Rolle. Das bedeutet, dass man verschiedene Qualitäten von Gefühlen zusammenbringen kann und sie sich nicht komplett widersprechen. Auch Demut und Dankbarkeit sind relevant. Wir wissen, dass manche Menschen angesichts ihrer äußeren Lebensumstände nach unseren Standards überhaupt nicht glücklich sein dürften, aber sie sind es teilweise sehr. In weltweiten Glücksstudien schneiden westliche Industrienationen trotz ihrer eher guten äußeren Lebensbedingungen teilweise erstaunlich schlecht ab, während Schwellen- oder sogar Entwicklungsländer vergleichsweise gut dastehen. Ökonomische Faktoren scheinen also eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Was halten Sie von Glücksstudien? Laut Glücksatlas sind Menschen in Skandinavien besonders zufrieden. In Deutschland sind es die Schleswig-Holsteiner ...
Langbehn: Diese Untersuchungen sind zumindest interessant. Wenn mir die Studien sinnvoll konzipiert erscheinen, lese ich die Ergebnisse gern – besonders als jemand, der in Schleswig-Holstein aufgewachsen ist.
Kann man Glück lernen?
Gallinat: Im Prinzip kann man die Veränderung der eigenen Haltung erlernen. Man muss sich nur entschließen, dies zu tun. Es gibt zig Lehranweisungen aus der Philosophie und aus der Spiritualität verschiedener Religionen, aber auch aus der Psychotherapie. Die Aspekte, die dort immer wieder auftauchen, sind Dankbarkeit und die Rücknahme der eigenen Bedürfnisse. Das klingt für den modernen, westlichen Menschen vielleicht zu sehr nach Verzicht. Es ist aber letztlich geeignet, das eigene Referenzsystem neu zu kalibrieren und damit die Wirkung glücklicher Momente zu verstärken und in den Vordergrund zu heben.
Wie wichtig sind menschliche Beziehungen für unser Glück?
Langbehn: Wir sind als Menschen auf andere Menschen bezogen. Aristoteles spricht vom „zoon politikon“, vom Menschen als ein auf Gemeinschaft angelegtes Wesen. Ich sehe darin einen nicht unwichtigen Punkt. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass wir uns in unserem Glücklichsein nicht von anderen Menschen abhängig machen sollten.
In welchem Lebenalter sind wir eigentlich am glücklichsten?
Langbehn: Studien zeigen, dass Menschen in meinem Alter – mit Mitte 40 etwa – zu den unglücklichsten zählen. Da kommt dann wohl die Midlife-Crisis …
Gallinat: Wir Menschen werden im Laufe unseres späteren Lebens offenbar immer glücklicher. Das haben kalifornische Forscher herausgefunden, denen die älteren Studienteilnehmer berichtet haben, dass sie während ihres Lebens stetig zufriedener und glücklicher wurden – von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Es scheint, als könnten ältere Menschen ihre Gefühle besser regulieren als junge, als träfen sie komplexere soziale Entscheidungen, als erführen sie größere Zufriedenheit durch einfache, kleine Dinge – all dies scheint eine Rolle zu spielen. Man könnte es Altersweisheit nennen.
Langbehn: Auf die freue ich mich besonders! Und überhaupt: Je älter man wird, desto reifer wird man im Umgang mit der Frage nach dem Glück selbst.