Hamburg. Die 100 großen Fragen des Lebens. Ein Physiker berichtet, wie Wissenschaftler den Ursprung unseres Universums erklären wollen.

Die Frage nach dem Anfang von allem beschäftigt die Menschheit seit jeher. Aber solange niemand eine Zeitmaschine erfindet, müssen Forscher die Kinderstube des Kosmos mühsam rekonstruieren: Hoch empfindliche Teleskope registrieren schwächste Signale aus der Frühzeit des Universums; riesige Teilchenbeschleuniger wie der LHC in Genf simulieren Zustände, wie sie wohl kurz nach dem Urknall herrschten, als alle Teilchen entstanden, die heute bekannt sind; Physiker berechnen, was unmittelbar nach dem Urknall geschehen sein könnte. Dieses Zusammenspiel aus Beobachtung, Experiment und Theorie soll erklären helfen, wie alles begann. Wobei „alles“ ja noch früher begonnen haben müsste als zur Zeit des „Big Bang“ vor 13,8 Milliarden Jahren – oder nicht? Nach Antworten sucht Jan Louis, Professor für theoretische Physik. Der 58-Jährige ist auch Vizepräsident der Universität Hamburg und Initiator der Vortragsreihe „Wissen vom Fass“.

Herr Louis, wollen wir nicht lieber einen Kaffee trinken gehen, statt hier zu sinnieren?

Jan Louis (lacht):
Warum?

Wenn der Urknall der Anfang von allem war, wenn also Raum und Zeit erst nach dem Urknall entstanden sind, gab es kein davor – die Frage, was vor dem Urknall war, erübrigt sich dann eigentlich.

Louis: Kommt darauf an. Es ist auf jeden Fall eine sehr interessante Frage. Deshalb möchten wir auch eine Antwort darauf haben.

Betrachten wir zunächst die Urknalltheorie. Warum ist sie so etabliert?

Louis: Die Urknalltheorie geht zurück auf eine Beobachtung im Jahr 1928. Der US-Astronom Edwin Hubble, Namensgeber für das Weltraumteleskop der Nasa, fand damals heraus, dass sich das Universum ausdehnt. Inzwischen ist das vielfach bestätigt worden. Aus dieser Entdeckung folgt, dass der Kosmos früher einmal viel kleiner gewesen sein muss und irgendwann mal ein winziges Etwas war. Nach dem Urknall hat sich das Universum dann in Sekundenbruchteilen exponentiell beschleunigt ausgedehnt.

Nach Berechnungen kam es zu dieser sogenannten Inflation vor 13,8 Milliarden Jahren. Wie gewinnen Forscher denn Erkenntnisse über diese Zeit?

Louis: Früher konnten Astronomen mit Teleskopen nur sichtbares Licht aus dem All auffangen und sich so ein Bild machen. Inzwischen ist die Datenlage immer besser geworden, weil wir mit diversen Instrumenten auch die übrigen Spektralbereiche der elektromagnetischen Strahlung aus dem All auswerten können – von Gamma- und Röntgenstrahlen über Infrarotlicht bis zu Radiowellen. Hinzu kommen Gravitationswellen, die Forscher 2015 zum ersten Mal nachgewiesen haben. Diese winzigen Krümmungen in der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, hatte Albert Einstein 1916 als Konsequenz aus seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt. Sie eröffnen uns neue Perspektiven auf die Frühzeit des Universums.

Inwiefern?

Louis: Das Universum wurde erst 380.000 Jahre nach dem Urknall durchlässig für Licht und andere elektromagnetische Strahlung, die wir heute empfangen. Gravitationswellen müssten aber schon beim Urknall entstanden sein, sie konnten also von Anfang an den Kosmos durchqueren. Falls wir diese Gravitationswellen beobachten, kommen wir durch ihre Analyse wissenschaftlich ganz nah an den Urknall heran. Für die Beschreibung des Urknalls selbst gibt es zurzeit aber noch keine etablierte Theorie.

Zur Person

Woran liegt das?

Louis: Es gibt zum einen die Quantentheorie, die den Mikrokosmos beschreibt, also die Physik der sehr kleinen Dinge. Und zum anderen Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, in der es um den Makrokosmos geht, die Physik der großen Dinge, also das heutige Universum und die Wechselwirkungen der Schwerkraft, der alles im Universum unterliegt. Beide Theorien sind vielfach bestätigt worden. Doch die Relativitätstheorie lässt sich im Mikrokosmos nicht anwenden und auch nicht auf den Urknall, als das Universum in einem Punkt konzentriert war. Es gibt aber mit der Stringtheorie den Ansatz, die beiden großen etablierten Theorien in Einklang zu bringen und so die Voraussetzung zu schaffen, den Urknall physikalisch zu beschreiben. Die Stringtheorie ist auch mein Forschungsgebiet.

Was hat es mit der Stringtheorie auf sich?

Louis: Das Standardmodell der Teilchenphysik besagt, dass alle Materie – Menschen, Pflanzen, Tiere, Planeten wie die Erde, Sterne wie die Sonne – aus elementaren Bausteinen besteht, den Elementarteilchen. Diese werden als punktförmige Teilchen verstanden, die aufeinander Kräfte ausüben können. Also zum Beispiel können sich zwei Teilchen elektrisch anziehen oder abstoßen. Die Schwerkraft jedoch passt hier mathematisch nicht hinein. Das ist aber gerade wichtig für die Physik im frühen Universum. Die Stringtheorie behebt dieses Problem. Sie setzt nicht auf punktförmige Teilchen, sondern geht davon aus, dass Materie sich aus winzigen Fäden zusammensetzt, die unterschiedlich schwingen können. Je nach Schwingung nehmen wir verschiedene Teilchen und Kräfte wahr, auch die Schwerkraft. Das würde die Physik der großen und der sehr kleinen Dinge kompatibel machen – bis hin zum Urknall. Sobald man eine physikalische Theorie des Urknalls hätte, ließe sich dann fragen, was davor war.

Was könnte denn vor dem Urknall
gewesen sein?

Louis: Lange Zeit bestand die Idee, dass das Universum sich ausdehnt, aber abgebremst wird durch die Anziehungskraft der Sterne und Materie im Universum. Dadurch, so die Theorie, sollte die Ausdehnung immer langsamer verlaufen, bis sich der Prozess dann irgendwann umkehrt und das Universum sich wieder zusammenzieht. Es wäre ein pulsierendes Universum, wobei der Urknall nur ein Element in diesem Zyklus bildete.

Das hieße, es müsste irgendwann
wieder einen Urknall geben. Andererseits sollte es bereits vor dem jüngsten Urknall einen anderen Urknall gegeben haben und davor wiederum einen...

Louis: Im Prinzip ja. Diese Theorie gilt allerdings als widerlegt, seit Astronomen beobachtet haben, dass sich unser Universum immer schneller ausdehnt. Wir können nicht wieder zurück. Es ist ein ewiges Ausdehnen.

Weiterhin diskutiert wird über die Idee, dass es viele Universen gebe und wir Teil eines solchen Multiversums seien.

Louis: Diese Vermutung wird durch die Stringtheorie gestützt, die viele, ganz verschiedene Universen zulässt. Ich denke auch, dass es tatsächlich so ist und nicht nur unser Universum existiert. Wenn man es philosophisch betrachtet, wird der Mensch immer kleiner. Einst hielt er sich für den Mittelpunkt des Universums. Dann stellte er fest, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Dann stellte er fest, die Sonne ist nur ein Stern von unfassbar vielen Sternen in unserer Galaxie, der Milchstraße, und diese ist eine von Milliarden Galaxien im Universum. Der nächste logische Schritt wäre, dass auch unser Universum nicht einmalig ist, sondern dass es unendlich viele Universen gibt.

Auch die Theorie vom Multiversum führt allerdings zu der Frage, was davor war. Es muss immer noch einen Anfang gegeben haben, der vor einem Anfang lag. Lässt Sie das nicht verzweifeln?

Louis: Nein. Es ist eine faszinierende Frage. Dieser Sache auf die Schliche zu kommen, ist ein großer Genuss. Es kann aber gut sein, dass man später sagen wird: Der Mensch kann die Frage nach dem Davor zwar stellen, aber sie macht physikalisch keinen Sinn. Das gilt ja auch für andere Phänomene. Zum Beispiel gibt es einen absoluten Nullpunkt. Das ist die tiefste Temperatur, die wir physikalisch erzeugen können. Der Mensch kann sich natürlich leicht vorstellen, über diese Grenze hinauszugehen. Wir müssten ein System am absoluten Nullpunkt doch nur in den Kühlschrank stellen und dann wird’s kälter, oder? In Wahrheit funktioniert das so natürlich nicht. Die menschliche Vorstellungskraft ist oftmals nicht kompatibel mit den physikalischen Theorien.

Kann es auch sein, dass es keine Antwort gibt, weil wir nicht klug genug sind, die Frage richtig zu stellen – und dass wir niemals klug genug sein werden?

Louis: Das könnte schon sein, wobei wir durch das Zusammenspiel von Beobachtung, Experiment und der Mathematik ein großes Stück weiterkommen werden. Wir tun, was wir können. Natürlich ist der Mensch begrenzt. Ein paar Geheimnisse werden bleiben.

Manchem hilft ja der Glaube weiter. Glauben Sie an Gott?

Louis: Ich bin katholischer Atheist. Ich glaube nicht an Gott, aber ich kann mich mit der Ethik und Moral des Christentums sehr gut anfreunden. Nichts anfangen kann ich mit der Schöpfungsgeschichte und der Idee, dass es ein Wesen gibt, das alles lenkt.

Wenn jemand mit Gott kommt, löst dies das Problem ja auch nicht.

Louis: Nee.

Auch hier könnte man ja fragen: Was war vor Gott – und landete dann bei demselben Problem wie bei der Urknall-Frage.

Louis: Eben.

Wie reagieren Menschen, wenn sie erzählen, dass sie sich mit dem Urknall und der Stringtheorie beschäftigen?

Louis: Ich kann Ihnen sagen, was passiert, wenn ich erzähle, dass ich Physiker bin. Es gibt zwei Reaktionen: Die einen fragen mich, ob ich bei ihnen zu Hause Geräte reparieren kann. Die anderen stellen Fragen, auf die ich die Antwort auch nicht weiß, zum Beispiel, was vor dem Urknall war.

Glauben Sie, dass es in Ihrem Leben zu einem Durchbruch kommen wird, was das Verständnis des Urknalls angeht?

Louis: Ja, auf jeden Fall. Wenn ich mir an­schaue, wo wir jetzt schon gelandet sind, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir weiterkommen. Vor der Entdeckung der Gravitationswellen gab es 2012 eine weitere Sensation, den Nachweis des Higgs-Teilchens. Damit gilt die Theorie als bestätigt, wonach uns ein unsichtbares Feld umgibt, das Teilchen seine Masse verleiht und erklärt, warum sich Materie zusammenballt, warum es uns Menschen gibt, Planeten und Sterne. Dieses Higgs-Teilchen hat auch im frühen Universum eine große Rolle gespielt. Die Physik zu verstehen, die sich darum rankt, wird uns einen Riesenschritt voranbringen im Verständnis des Kosmos.

Auch über die Zeit vor dem Urknall?

Louis: Ich persönlich vermute, dass da nichts war vor dem Urknall. Der physikalische Begriff von Zeit wird sich sicher noch verändern. Eine Theorie dazu wird man in Tests bestätigen können, genauso wie bisher alle Tests bestätigen, dass die Lichtgeschwindigkeit die höchste Geschwindigkeit ist. Vielleicht müssen wir das einfach akzeptieren. Aber noch sind wir nicht soweit, es gibt noch viel zu tun.

Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?

Louis: Sehr gerne!