Hamburg. Die 100 großen Fragen des Lebens: Experten berichten, wie der stationäre Buchhandel ums Überleben kämpft.
Beide lieben sie Krimis und sortieren ihre Bücher thematisch, nicht alphabetisch. Einen Roman neben ein juristisches Werk zu stellen, das käme für Prof. Dr. Gabriele Beger (65) nicht infrage. Bei Prof. Dr. Michel Clement (46) ordnet seine Tochter die Bücher im Regal ganz gerne nach Farben – und damit sind wir schon mitten im Thema:
Verkommt das literarische Werk zum Einrichtungsgegenstand?
Wie viele Meter misst bei Ihnen zu Hause das Bücherregal?
Prof. Dr. Gabriele Beger: Das sind sehr, sehr viele Meter. Meine Räume sind vier Meter hoch, und die Bücher reichen bis unter die Decke. 30 Bücher passen auf einen Meter, da muss ich einmal kurz rechnen ...
Prof. Dr. Michel Clement: Ich bin gerade umgezogen, seitdem ist meine Bücheranzahl dramatisch geschrumpft, die meisten Werke habe ich in der Cloud.
Auch wenn wir von Regalen sprechen: Das Buch verkommt bisher zum Glück nicht zum Wohnaccessoire. Im Jahr 2017 gab es rund zwölf Millionen Personen in Deutschland, die mehrmals wöchentlich ein Buch zur Hand nahmen.
Clement: Der physische Markt ist in Deutschland noch stark, aber wie auch in allen anderen westlichen Ländern sind die Wachstumsraten des E-Books extrem groß – in den USA beträgt der Anteil der E-Books in bestimmten Bereichen schon 50 Prozent. Insofern glaube ich, dass das physische Buch dramatisch unter Druck kommt und somit der stationäre Buchhandel. Schauen Sie sich doch mal bei Thalia um, da stehen jetzt schon immer weniger Bücher und immer mehr andere Waren, die dort verkauft werden. Der große Verlierer der Digitalisierung sind neben den Buchhandlungen die wissenschaftlichen Bücher. In vielen Wissenschaften hat das Buch kaum mehr Relevanz. Es zählen nur Veröffentlichungen in bestimmten Journalen.
Beger: Die Antiquariate sterben bereits. Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung kommt zu dem Ergebnis: Ein Buch zu kaufen ist nicht mehr attraktiv, und es werden auch weniger Bücher verschenkt. Noch ist der Einbruch nicht erschreckend, aber er vollzieht sich kontinuierlich.
Schauen wir dem Feind ins Gesicht: Wie böse ist Amazon? Dem klassischen Buchhandel jagt der Online-Händler Existenzängste ein.
Clement: Amazon hat den Kunden einen Nutzen gegeben, den es vorher nicht gab. Da darf der Handel nicht in Depressionen verfallen, sondern muss kreativ eigene Ideen entwickeln. Wer aber seinen Buchladen so führt, wie er ihn seit Generationen führt, für den wird es wahrscheinlich schlecht ausgehen.
Beger: Amazon hat eben den Puls der Zeit erkannt und ein Geschäftsmodell daraus entwickelt. Der Buchhandel hat verschlafen, selbst diese Infrastruktur aufzubauen. Ich kann mich erinnern, dass wir vor vielen Jahren von der Bibliothek aus sehr häufig mit Buchhandlungen und Verlagen im Gespräch waren, „Tankstellen“ aufzubauen, so haben wir das genannt, wenn man sich Inhalte in einer Bibliothek sofort runterladen und kaufen hätte können. Leider ist nichts daraus geworden.
Vor allem jüngeren Menschen geht es nicht mehr um Besitz, sie wollen nur den Zugang.
Beger: Das finde ich eigentlich gut. Ich lehre ja selbst schon seit vielen Jahren und habe erlebt, wie anders sich die Studenten heute im Vergleich zu vor zehn Jahren Wissen aneignen. Ich empfehle in dem Zusammenhang gerne das Buch „Erfindet euch neu“ des französischen Philosophen Michel Serres. Der frontale Weg der Wissensvermittlung, bei der jemand ein Buch „vorliest“, ist einfach versperrt, aber es gibt andere, spannende, interaktive Methoden.
Das klingt ein wenig so, als seien Bücher Denkmäler der Vergangenheit.
Beger: Das kommt darauf an, was man unter einem Buch versteht. Für mich ist ein E-Book genauso ein Buch. Ich liebe mein iPad und die Möglichkeit, mehrere Bücher gleichzeitig mit mir in der Handtasche rumtragen zu können. Manche Menschen brauchen aber das Haptische, die möchten umblättern.
Der Schriftsteller Ken Follett sagt, Bücher wird es immer geben wegen des Gefühls, etwas Organisches in der Hand zu haben.
Clement: Da täuscht er sich, glaube ich. Gedruckte Bücher wird es nur noch in kleinen Auflagen geben. Die Zeiten, in denen Tausende Exemplare gedruckt wurden, sind vorbei. Wer will, kann sich das digitale Werk zu Hause selbst ausdrucken, oder sie lassen es sich bei „Print on Demand“ drucken, dann sieht es vielleicht noch hübscher aus. Die Deutschen sind den traditionellen Medien sehr verbunden, aber der Weg in die Digitalisierung ist unaufhaltbar. In der Musikindustrie war Deutschland auch lange noch das gute alte CD-Land, das ändert sich jetzt dramatisch. Das Ausland zeigt uns da ganz klar die Richtung vor, da liegen die digitalen Anteile bereits weitaus höher.
Bei uns halten sich die angeblich guten Zeiten also länger als anderswo.
Clement: Ja. Umso erstaunlicher, dass die Verlage und Handelsketten darauf nicht reagieren, wenn sie doch in den USA schon genau beobachten konnten, wohin die Reise geht. Es muss sich hier um Verdrängung handeln, anders kann ich mir dieses Nichtreagieren kaum erklären.
Beger: Wir müssen weg von dem Nostalgie-Gedanken. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, und so schön war es früher auch gar nicht. Heute ist es viel schöner! Ich konnte nie zuvor fünf Bücher gleichzeitig in meiner Handtasche mitnehmen, ich konnte nie durch ein kleines Tippen in einer Datenbank nachschauen, wann dieser Autor gelebt hat. Das sind unermessliche Geschenke, die wir durch die Digitalisierung genießen.
Digitale Abomodelle haben den Markt für Filme und Musik verändert. Wird das auch für Bücher gelten? Skoobe beispielsweise ist ein im Jahr 2012 gestarteter Dienst, der eine Flatrate für E-Books anbietet, d. h., man kann für einen monatlichen Festpreis unbegrenzt Bücher lesen.
Clement: Die neuen Leihsysteme werden alles verändern. Skoobe ist wie Spotify für Bücher, denn der Autor wird auf der Basis der gelesenen Seiten bezahlt. Das ist eine riesige Herausforderung für den Markt, denn früher wurde das Buch bezahlt, egal, ob man es las oder nicht – in Abomodellen wird nur Geld verdient, wenn das Buch wirklich gelesen wird. Das bedeutet weniger Cash für Autoren und Verlage.
Ich frage mich gerade, was das für viele Klassiker bedeuten würde, ob sie tatsächlich so groß rausgekommen wären ...
Clement (lacht): Ich hätte da so eine Vermutung ...
Die Digitalisierung verändert auch die Formen des Publizierens: Immer mehr Autoren verlegen in eigener Regie, als „Selfpublisher“, ihre Texte unter Umgehung eines klassischen Verlages.
Clement: Auch das hat spannenden Auswirkungen. Jeder Hans und Franz kann sein Werk nun bei Amazon oder Books on Demand herausgeben. Für Autoren eine wunderbare Möglichkeit, sie müssen sich nur selber vermarkten, das wird häufig unterschätzt. Die Verlage sehen die Entwicklung als Risikofaktor, der ihnen Einnahmen stiehlt. In den USA wird mit Selfpublishing pro Jahr bereits eine halbe Milliarde Euro Umsatz gemacht. Für den Konsumenten wiederum verbessert sich die Auswahl, weil viele günstige Bücher angeboten werden.
Wird es in Zukunft noch genug Leser geben, die bereit sind, für ihre Lektüre in verschiedenen Modellen zu zahlen?
Beger: Doch. Wissen wird man immer brauchen, genauso wie die Auseinandersetzung mit Sprache. Heute spielt das Internet eine Rolle in der Vermittlung von Wissen, aber ich frage mich, warum dennoch alle Bibliotheken gestürmt werden? Wir haben in der Staatsbibliothek in Hamburg 4000 Besucher am Tag, wir haben deshalb bis Mitternacht geöffnet, um diese „Massen“ aufnehmen zu können. Der Andrang liegt zum einen daran, dass wir den Zugang zu einem Datenmarkt bieten, den sich ein Einzelner nicht leisten kann. Zum anderen will sich niemand vollkommen zurückziehen. Der Mensch möchte und muss kommunizieren. Er muss unbedingt darüber reden können, was er an Wissen gewonnen hat.
Clement: Ich glaube nicht an Bibliotheken, in denen Bücher stehen. Bibliotheken sind Rückzugsorte des Lernens und immer weniger Aufbewahrungsorte für Bücher. Es wird die klassischen schönen Bereiche wegen des Ambiente geben, aber der Content ist online. Bibliotheken sehen in zehn Jahren vollkommen anders aus als heute.
Wie denn? Eher wie Starbucks?
Beide: Ja!
Wie werden wir unser Wissen in 100 Jahren aufbewahren und teilen?
Beger: Wir werden uns alle in einer Art Cloud befinden, nicht physisch, aber unser Wissen. Ich habe an mir selber bemerkt, welche Vorteile eine Cloud bietet. Ich muss zu Hause keine Festplatten hüten wie Schätze. Als mein Handy mal weg war, hatte ich keine Telefonnummern mehr, keine Fotos, keine Termine. Da ist mir klar geworden, dass ich besser einem Dienstleister zu vertrauen lerne. Worüber wir uns aber Gedanken machen müssen: Wenn immer mehr Inhalte im Netz frei zugänglich sind, wie können die Urheber, also Autoren, Reporter, Fotografen, dann noch davon leben?
Gute Frage.
Beger: Die Gesellschaft gegen Urheberrechtsverletzungen hat untersucht, inwieweit der Mensch bereit ist, für den Konsum von Wissen zu zahlen. Wir haben eine neue Generation, die sagt, „wenn es einfach zu bedienen und bezahlbar ist, dann habe ich kein Interesse daran, einen Urheberrechtsbruch zu begehen, dann zahle ich natürlich“.
Gibt es Modelle, die Sie gut finden? Sind kuratierte digitale Buchclub-Modelle oder werbefinanzierte Angebote zum Beispiel eine Idee?
Clement: Der Buchclub hat in Deutschland den Charme des Angestaubten und ist faktisch erledigt. Aber eigentlich sind Skoobe und bestimmte Amazon-Services nichts anderes als Buchclubs, sie heißen nur anders.
In jedem Jahr erscheinen mehr als 80.000 bis 90.000 Bücher. Wer liest das alles?
Clement: Ich freue mich einfach nur, dass überhaupt noch gelesen wird. Leider gibt es viele Kinder, deren einzige beiden Bücher die sind, die ihnen beim Kinderarzt von der Initiative Buchstart-Hamburg mitgegeben wurden. Die Folgen sind extrem groß, die Kinder verpassen wichtige Bildungschancen. Wenn man etwas wirklich lernen will, dann muss man es mehrfach lesen.
Beger: Es gibt Zwei- und Dreijährige, die nehmen ein Buch in die Hand und wischen mit der Hand darüber wie beim Handy. Da wachsen Kinder heran, die extreme Kompetenzen in der Digitalisierung haben. Wir müssen in Kitas und Schulen mehr fürs Lesen werben, denn ich stelle an der Uni fest: Es gibt viele kluge Studierende, aber sie sind oft nicht mehr fähig, ihre Kenntnisse so zu Papier zu bringen, dass es eine schlüssige Folge ergibt. Da hilft die Kultur des Lesens.
Vielleicht ist unsere Frage dann falsch gestellt. Vielleicht müsste es anstatt „Wird es immer Bücher geben?“ heißen: „Wird es immer Lesende geben?“
Beger: Ja, darum geht es. Die Fähigkeit, konzentriert einen Vortrag zu hören oder ein Buch zu lesen, nimmt ab. Das hat mit der schneller werdenden Umwelt zu tun. Es ist erwiesen, dass länger als fünf Minuten kein Student mehr konzentriert zuhören kann.
Clement: Mir lauschen die alle ganz gebannt (lacht).
Beger: Dann sind Sie bestimmt schon sehr interaktiv unterwegs.
Clement: Die Produkte haben sich einfach noch nicht so geändert, wie sie es müssten. Das kann ich nicht nachvollziehen. Nehmen wir das Buch, das ich gerade lese: „Patria“. Wenn mir die Geschichte der ETA und einige baskische Begriffe unbekannt sind, dann muss ich jede Menge nachschlagen. Lästig! Im Digitalen könnte man das mit Links, mit Erklärungen, mit Videos versehen. Das gute alte Buch wird sich ändern müssen, es muss reicher, lebhafter werden. Im Kinderbuchbereich sind viele Bücher bislang einfach 1:1 als E-Book rübergezogen worden, wie fantasielos.
Sie sprachen gerade von Videos. „Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.“ Stimmt dieser Spruch von Heinrich Heine noch, oder müsste man die Power heute nicht YouTube zusprechen?
Clement: Wenn ich mich jetzt in der Schule auf Goethes Faust vorbereiten müsste, dann könnte ich das Werk tagelang lesen, oder ich gucke auf YouTube das dreiminütige „Best-of-Faust“-Video an. Was ist wohl effektiver?
Beger: Und das ist eine Entwicklung, die wir nicht beklagen müssen! Was haben wir denn früher gemacht? Wir haben Sekundärliteratur gesucht, ich habe selbst nicht alle Klassiker gelesen. Einmal habe ich sogar eine sehr gute Note bekommen für eine Besprechung, bei der ich das Buch nie gelesen habe. YouTube ist nur eine andere Form von Sekundärliteratur. Wir haben es mit einem Kulturwandel zu tun, den wir akzeptieren müssen.
Über Donald Trump wurden wahrscheinlich mehr Bücher geschrieben, als er selbst je gelesen hat. Ärgern Sie manche Werke?
Beger: Natürlich fragt man sich bei manchen Neuerscheinungen, ob dafür Bäume sterben mussten, aber wenn eine Nachfrage besteht, kann ich mich nicht hinstellen und darüber die Nase rümpfen. Nicht alle mögen Lessing und Schiller, obwohl ich finde, jeder Mensch sollte einen Klassiker gelesen haben, weil das für die Allgemeinbildung und Sprache eine wichtige Rolle spielt. Und zu Trump: Er ist gar nicht so dumm, er ist nur ein guter Schauspieler, den ich aber nicht sonderlich mag. Dass ich den nicht mag, das streichen Sie bitte nicht raus!