Tokio. Einer der erschütterndsten Fälle in der Justizgeschichte. Ein Mann, der fast 50 Jahre in der Todeszelle saß, wurde freigesprochen.

Iwao Hakamada war nicht im Gerichtssaal, als die Richter verkündeten, dass er von nun an frei ist. Der 88-Jährige hat schlicht keine Kraft mehr. Jahrzehnte hat er im Gefängnis verbracht, über ein halbes Jahrhundert auf die Vollstreckung seines Todesurteils gewartet. Vor 56 Jahren hatte das Bezirksgericht in Shizuoka, südwestlich von Tokio, ihn für schuldig befunden. Er soll einen Brand entfacht haben und für den Tod von vier Personen verantwortlich gewesen sein. Darauf stand die höchste Strafe.

Aber die muss er nun doch nicht erleiden, wie dasselbe Gericht, das Hakamada damals zum Tod verurteilte, am Donnerstag befand. In Anwesenheit von Hakamadas drei Jahre älterer Schwester Hideko, die über Jahrzehnte um Gerechtigkeit für ihren Bruder gekämpft hat, wurde der einstige Boxer Iwao Hakamada doch noch freigesprochen. Die Beweislage habe schlicht nicht ausgereicht. Dem längst altersschwachen Mann steht jetzt ein ruhiger Lebensabend bevor. Wie er sich damit fühlt, ist unklar. Die Öffentlichkeit meidet er schon länger.

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Eine Sensation sind dieser Mann, seine unermüdliche Schwester und der ganze Hergang des Falls aber dennoch – mit dem Fehlereingeständnis des Gerichts, was sein einstiges Urteil angeht, umso mehr. Es ist erst das fünfte Mal, dass im Japan der Nachkriegszeit eine zum Tode verurteilte Person doch noch freigesprochen wird. In der Regel ist die Justiz eher erbarmungslos. Ist jemand erst strafrechtlich angeklagt, wird diese Person gut 99 Prozent der Fälle auch verurteilt. Und dann gibt es fast kein Zurück mehr.

Japan: Hakamada gesteht die Tat, zieht aber vor Gericht wieder zurück

Der Fall des Iwao Hakamada erzählt sich in Kürze folgendermaßen: Im Sommer 1966 war er festgenommen worden, nachdem man ihn in einem brennenden Haus angetroffen hatte, in dem die Körper von vier erstochenen Menschen lagen. Nach 264 Stunden Verhör gestand der damals 30-jährige Hakamada die Tat, zog sie aber vor Gericht wieder zurück. Die verhörenden Polizisten hätten ihn geschlagen, ihm gedroht und sein Geständnis erzwungen, sagte Hakamada in der Verhandlung.

Seitdem hat der Mann, den man durch TV und Zeitungen längst für seinen gebeugten Gang und den müden Blick kannte, ein halbes Jahrhundert auf die Vollstreckung gewartet. Immer wieder wurde das Urteil kritisiert und angefochten. Zum Vorwurf des erzwungenen Geständnisses kam hinzu, dass die Beweise zusehends konstruiert erschienen. So sei die Kleidung mit Blutspuren, die er getragen haben soll, zu klein für seinen Körper gewesen.

1966 murder case
Der Boxer Iwao Hakamada wurde 1968 zum Tode verurteilt. © picture alliance / Kyodo | *

Im Jahr 2014 erwirkte schließlich das Gericht von Shizuoka, dass sein Fall erneut aufgerollt werden müsse, was 2018 aber vom Hohen Gericht in Tokio wiederum rückgängig gemacht wurde. Ende 2020 erklärte dann das Höchste Gericht jenes Urteil aber für ungültig. Es folgte ein neues Verfahren und am Donnerstag der Richterspruch. Sofern die Anklageseite das Urteil nicht noch anficht, ist der Prozess ein letztes Mal beendet. Und das wäre auch eine Blamage für Staatsanwaltschaft und Justiz.

Fall offenbart generelles Problem Japans

Der Fall Hakamada ist im Land auch deshalb bekannt, weil er ein generelles Problem anspricht. „Sehr häufig ist einem Schuldspruch ein Geständnis vorausgegangen“, sagt Lawrence Repeta, Rechtsprofessor an der Meiji Universität in Tokio. Aber Repeta sagt auch: „Es gibt eine hohe Zahl von Geständnissen, die in Wahrheit falsche Geständnisse sind.“ In anderen Worten: erzwungene Geständnisse wie im Fall Hakamada. Im Namen des 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakts über politische und bürgerliche Rechte haben UN-Beobachter Japan wiederholt deutlich kritisiert.

Laut einem Bericht von 2014 haben die Verhörkammern in Polizeistationen die Funktionen von Gefängnissen – mit dem Unterschied, dass es noch gar keine schuldiggesprochene Person gibt. International sei das System einzigartig. „Ein internationaler Vergleich dahingehend, wie harsch die japanische Praxis nun ausfällt, ist schwierig“, sagt Dimitri Vanoverbeke, Rechtssoziologe und Professor für Japanologie an der Universität Leuven in Belgien.

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So hänge die Menschlichkeit eines Rechtssystems manchmal stärker von ihrer praktischen Anwendung als von den Regeln ab. „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stärkte in einem Urteil von 2008 die Rechte verdächtiger Personen. Dazu gehört auch das Recht auf Zugang zu einem Anwalt.“ Einige Jahre später wurde dies in der EU in jeweils nationales Gesetz umgesetzt. „Aber was seitdem passiert, ist nicht immer eine tatsächliche Verbesserung“, so Vanoverbeke.

„In Frankreich zeigt sich zum Beispiel, dass die Polizei Menschen häufig zunächst nicht formal festnimmt, sondern die Verdächtigten in einem lockeren Gespräch freiwillig befragt.“ Sofern Personen über ihre Rechte uninformiert sind, könne dies für einen entscheidenden Nachteil für Verdächtigte gegenüber der Polizei sorgen. Allerdings betont auch Vanoverbeke: „In Japan haben Verdächtigte weiterhin kein Recht auf Zugang zu einem Anwalt beim Verhör.“

Japan führte Neuerungen ein, aber ...

Dabei gibt es auch in Japan Verbesserungen, wenngleich diese nicht immer starke Resultate zeigen. So wurde 2016 eingeführt, dass Verhöre per Video dokumentiert werden müssen. „Das ist grundsätzlich ein Schritt nach vorne“, sagt Lawrence Repeta. „Aber die Regel betrifft nur einen kleinen Anteil aller Fälle.“ Bei Verdacht auf schwere Verbrechen wie Mord kann weiterhin unbeobachtet verhört werden.

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Auch deshalb erhoffen sich Kritiker der japanischen Strafjustiz etwas vom Fall des Iwao Hakamada: Wenn nun etabliert ist, dass sein Geständnis von damals ein falsches war, habe das System indirekt seine Reformbedürftigkeit bekannt. „Es geht dabei nicht nur um Iwao“, sagte seine Schwester Hideko Hakamada bei einer Pressekonferenz im Juli. „Bei diesem Kampf ist der Eindruck entstanden, dass der Prozess nie enden würde. Es muss auch andere geben, die weinen, weil sie ungerechterweise verurteilt wurden.“

So fordert Hideko Hakamada auch eine Reform dahingehend, was die Möglichkeiten zu einer Wiederaufnahme von Gerichtsprozessen angeht, sobald bei einem Fall die Beweislage neu zu bewerten ist. Für Iwao Hakamada mag der späte Freispruch kaum Wiedergutmachung sein. Sein Name aber dürfte in Japans Justizgeschichte spätestens jetzt ein bleibender Name sein.