Hamburg. Der Bürgermeister über die Konsequenzen aus der Messerattacke in Barmbek und die politischen Folgen der Gewaltexzesse.
Es war einer der letzten Termine von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) vor seinem Urlaub. Das Abendblatt traf den Senatschef im Bürgermeisteramtszimmer zum Interview.
Sind Sie froh, wenn dieser Sommer vorbei ist?
Olaf Scholz: Es hat in Hamburg in den vergangenen Wochen schlimme Ereignisse gegeben. Das steckt mir noch in den Knochen.
Seit den Ausschreitungen am Rande des G20-Gipfels und dem Terroranschlag von Barmbek haben viele Menschen Angst. Wie wollen Sie deren Sicherheit verbessern?
Mir ist wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sich sicher fühlen. Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Sicherheit bei Polizei und Behörden gut aufgehoben ist. Wir haben seit dem Jahr 2011 bei der Polizei keine Stellen mehr abgebaut, die Ausbildungskapazitäten erhöht und die Ausstattung unserer Sicherheitskräfte verbessert. Auch künftig gilt: Die Polizei wird bekommen, was sie benötigt, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten.
Von der Diskussion über das Thema innere Sicherheit profitiert gemeinhin die CDU. Fehlt den Sozialdemokraten ein Hardliner wie Otto Schily?
In Hamburg liegt die Kernkompetenz für die Sicherheit bei den SPD-geführten Senaten. Wir waren es, die die Sparpolitik bei der Polizei beendet haben. Auch für ganz Deutschland gilt im Übrigen, dass es sozialdemokratische Innenminister und Innenpolitiker waren, die mehr Personal für die Sicherheitsbehörden verlangten. Die Personalaufstockung bei der Bundespolizei hat in der Bundesregierung die SPD durchgesetzt. Inzwischen ist es parteiübergreifend Konsens, dass es auch darum geht, bei der Polizei genügend Leute zu beschäftigen.
"Ich bin Erster Bürgermeister"
Ist das eine Rolle für Sie – Olaf Scholz, der neue Otto Schily?
Ich bin Erster Bürgermeister von Hamburg und habe nicht vor, dem nächsten Bundeskabinett anzugehören. Aber vielen Dank dafür, dass Sie mir das zutrauen.
Lautet eine Konsequenz aus dem Anschlag von Barmbek, dass wir mit der Terrorgefahr leben müssen?
Bei allem Realismus: Wir sollten uns nicht an das Gefühl gewöhnen, damit leben zu müssen. Nach den Anschlägen in Berlin, Ansbach, Würzburg und jetzt in Hamburg geht es darum, Erfahrungen sofort zu nutzen, um die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden weiter zu verbessern und Gefahren zu minimieren.
Welche Konsequenzen ziehen Sie politisch aus dem Anschlag?
Ich halte für richtig, dass wir auch Leute beobachten, die noch keine Straftat begangen haben, und dass wir bei entsprechenden Hinweisen auch jemanden als Gefährder einstufen, der gegen kein Gesetz unseres Landes verstoßen hat. Wie diese Einschätzung erfolgt, wird aber immer wieder diskutiert werden müssen. Dazu gehört auch die Frage, ob die gesammelten Informationen ausgereicht hätten, den mutmaßlichen Attentäter in Abschiebehaft unterzubringen.
Der mutmaßliche Attentäter von Barmbek ist ein abgelehnter Asylbewerber, der ausreisepflichtig war, aber, wie Sie sagen, nicht abgeschoben wurde. Wer hat wann versagt?
Die Umstände dieses Falles müssen sorgfältig aufgearbeitet werden. Ich bestehe aber darauf, dass nicht der eine mit dem Finger auf den anderen zeigt. Es ist bedrückend, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Frist versäumte, in der der Mann hätte nach Norwegen zurückgeschickt werden können, aber auch das ist kein Anlass für Schuldzuweisungen. In diesem Fall hatte es die Ausländerbehörde sogar fast schon geschafft, Passersatzpapiere von der Palästinensischen Mission in Berlin zu besorgen, und der Mann wirkte bei seiner bevorstehenden Ausreise mit.
"Die Zahlen sind nicht zufriedenstellend"
Es werden kaum abgelehnte Asylbewerber abgeschoben.
Die Zahlen sind nicht zufriedenstellend. Wir arbeiten aber auf allen Wegen daran, die Ausreisezahlen zu steigern. Wir fordern sehr offensiv die Beachtung der Ausreisepflicht bei abgelehnten Asylbewerbern ein, wir unterstützen bei freiwilligen Rückreisen, und wir haben den Abschiebebereich der Ausländerbehörde erheblich verstärkt. Die eigentlich interessante Botschaft besteht darin, dass in Hamburg trotz der vielen Flüchtlinge, die zuletzt zu uns kamen, die Zahl der Geduldeten relativ konstant ist.
Das klingt nach Resignation.
Nein, und wir haben einige rechtliche Hindernisse beseitigt. So gab es früher keine gesetzliche Klarheit darüber, aus welchen medizinischen Gründen jemand nicht abgeschoben werden durfte. Die neue gesetzliche Regelung hat hier deutlich mehr Klarheit gebracht. Mit dem Ausreisegewahrsam haben wir darüber hinaus in Hamburg eine Möglichkeit geschaffen, mit der die zwangsweise Durchsetzung von Ausreisen klar unterstützt wird.
Ist Deutschland zu nachsichtig bei den Abschiebungen?
Für die Jahre 2015 und 2016 wird man das wohl so sagen müssen. Mittlerweile sind wir besser geworden. Griechenland und Italien haben da mehr Probleme. Aber natürlich muss es unser Ehrgeiz bleiben, schneller abzuschieben.
Dazu müssen die Asylbewerbungsverfahren schneller laufen.
Wir führen Asylverfahren nicht selbst durch, das macht der Bund. Hamburg hat alles dafür getan, schnelle Asylverfahren zu ermöglichen. In unserer zentralen Erstaufnahme und dem Ankunftszentrum in Rahlstedt werden unmittelbar bei der Ankunft alle erforderlichen Daten der Asylbewerber erfasst. Und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist jetzt grundsätzlich in der Lage, innerhalb weniger Tage eine Entscheidung zu treffen. Das ist ein großer Unterschied zu 2015 und 2016. Damals dauerte das Monate. Wir haben zudem unsere Verwaltungsgerichte personell verstärkt und technisch aufgerüstet, damit entsprechende Klagen zügig bearbeitet werden können. Im bundesweiten Vergleich steht Hamburg gut da.
"Schnell wieder ausreisen"
Hoffen Sie auf sinkende Asylbewerberzahlen?
Es darf zumindest nicht wieder eine Situation wie vor zwei Jahren entstehen. Damals hatte man das Gefühl, die Behörden sind nicht in der Lage, ankommende Flüchtlinge zu registrieren, zu identifizieren und unterzubringen. Das ist anders geworden. Aber unabhängig davon: Ein Land, das Flüchtlinge aufnimmt, muss sich auf jene konzentrieren, die den Schutz zu Recht in Anspruch nehmen. Diejenigen, die nicht bleiben dürfen, müssen schnell wieder ausreisen.
Zum G20-Gipfel: Was werfen Sie sich selbst in der Rückschau auf die Ereignisse nach fast einem Monat vor?
Wir haben die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für einen sehr großen Polizeieinsatz geschaffen. Trotz der Größe der Herausforderung waren wir sicher, dass wir die Sicherheit der Bürger, der Gipfelteilnehmer und der friedlichen Kundgebungen gewährleisten können. Der Gipfel hat wie geplant stattgefunden, der Austragungsort Messehallen stellte kein Problem dar, der Hafen und die Bahninfrastruktur sind nicht angegriffen worden. Was wir trotz der großen Polizeipräsenz nicht hinbekommen haben, ist, dass die Sicherheit im öffentlichen Raum zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort gewährleistet war. Das alles müssen wir aufarbeiten und herausfinden, welche weiteren Sicherheitsmaßnahmen man in solchen Fällen noch ergreifen kann. Die Aussage, man könne die Sicherheit garantieren, würde ich heute vorsichtiger formulieren. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Das treibt mich um und wird mich noch lange umtreiben.
War es die größte Erschütterung in Ihrer politischen Karriere, als Sie die Bilder aus der Schanze gesehen haben?
Es ist für mich als Bürgermeister die größte Herausforderung. Die Ereignisse bedrücken mich noch. Der Anschlag auf das World Trade Center, den ich als Hamburger Innensenator erlebt habe, gehörte mit Sicherheit zu den schrecklichsten Geschehnissen, mit denen ich während meiner bisherigen politischen Tätigkeit zu tun hatte. Drei der Terroristen hatten ja zuvor in Hamburg gelebt.
Wie nahe waren Sie daran, als Konsequenz aus den massiven Ausschreitungen beim G20-Gipfel von sich aus zurückzutreten?
Ich habe mir während des Gipfels natürlich auch diese Frage gestellt. Es gehört zur Pflicht des Amtes, diese Möglichkeit zu erwägen. Ich wollte mir deshalb über meine Entscheidung klar sein, bevor ich am Sonntag in die Öffentlichkeit ging.
Wenn Ihre innere Selbstprüfung anders ausgefallen wäre, dann wären Sie zurückgetreten?
Selbstverständlich. Mir war der Ernst der Situation für die Stadt, für die Bürgerinnen und Bürger bewusst. Ich habe deshalb auch mit anderen darüber diskutiert.
"Richtige Entscheidung"
Und was war ausschlaggebend dafür zu sagen, ich bleibe im Amt?
Letztlich geht es doch darum, ob man sich selbst weiter in der Lage sieht, das Bürgermeisteramt mit der Souveränität und der Autorität auszufüllen, die dieses Amt erfordert. Und ob diejenigen, die einen in dieses Amt gewählt haben, weiter zu einem stehen. Und all diese Fragen konnte ich bejahen. Viele, mit denen ich seither gesprochen habe, sagten mir hinterher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, auch die Bundeskanzlerin.
Haben Sie mit der Bundeskanzlerin an dem Wochenende persönlich darüber gesprochen?
Wir haben an dem Wochenende über die Lage gesprochen. Und sie hat mir hat ein paar Tage später, als wir zu den deutsch-französischen Regierungskonsultationen in Paris waren, sehr ausdrücklich versichert, dass sie einen Rücktritt für völlig falsch hielte.
Noch einmal zum Gipfel selbst: Muss man für die Zukunft über das Format, den Gigantismus, der mit der Veranstaltung verbunden ist, nachdenken?
Ich bin dafür, die Dinge nicht zu vermischen. Die erste Frage ist: Wenn es den G20-Gipfel gibt, soll er dann in demokratischen Gesellschaften, in unseren Städten stattfinden können? Die Antwort muss aus meiner Sicht „Ja“ lauten. Die Herausforderungen, die das für die Sicherheit bedeutet, können nicht gegen solche internationalen Treffen sprechen. Unabhängig davon muss man über Formate immer nachdenken; das ist die zweite Frage. Meine Meinung: Man kann so ein Format nicht aufgeben, wenn man kein besseres hat. Und das haben wir gegenwärtig nicht. Es muss richtige Gespräche von Regierungschefs – von Angesicht zu Angesicht – geben. Dieser persönliche Austausch ist in der Politik wichtig und durch nichts zu ersetzen.
Also sollte alles so bleiben, wie es ist?
Schwierig ist es, dass es vor solchen Konferenzen einen so großen Erwartungsdruck hinsichtlich der Ergebnisse gibt. Dabei soll doch eigentlich das Gespräch im Mittelpunkt stehen. Die Gipfel werden unglaublich lange vorbereitet, die amerikanische Delegation zum Beispiel kommt mit fast 1000 Teilnehmern. Dann sind 5000 Journalisten da, die alle fragen: Was kommt dabei heraus? Das hat natürlich Rückwirkungen auf das Gipfelgeschehen. Aber: Dieses Format haben wir immerhin, so viele gibt es davon ja nicht.
Ein Ergebnis für Hamburg ist, dass wieder über die Rote Flora diskutiert wird. Hat die Rote Flora in dieser Form noch eine Zukunft?
So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Deswegen muss es Veränderungen geben, und zwar eine klare Distanz zur Gewalt. Mein Gefühl ist, dass auch die Bürger des Schanzenviertels das erwarten.
Diese Distanzierung ist in der Geschichte der Flora nie gelungen. Es gab immer wieder Phasen der Gewalt.
Ja. Die Rote Flora existiert jetzt seit fast 30 Jahren. Auch CDU, FDP und Schill haben daran nichts geändert. Zuletzt sah es so aus, als ob es einen unerklärten Prozess weg von der Gewalt geben würde. Da erleben wir jetzt einen herben Rückschlag, den wir nicht beschönigen sollten. Ich kann nur allen raten, nicht zu glauben, dass alles so wie vorher sein wird, wenn man nur lange genug wartet.
Wie viel Zeit geben Sie der Roten Flora denn, sich von der Gewalt konsequent abzuwenden?
Der Prozess fängt jetzt an, wir sind auf einem Weg. Antikapitalismus und Kritik am SPD-Spießertum – okay, aber keine Gewalt. Es darf auch kein Milieu geben, in dem die Sympathie die Militanten so einhegt, dass sie sich in ihrem Verhalten sicher fühlen.
Diese Einhegung findet doch längst bis weit ins linksliberale Milieu hinein statt.
Ich bin sehr sicher, dass viele von denen sehr geschockt sind und dass gerade etwas ganz anderes im Gange ist. Viele sehen, dass es absurd ist und an Zynismus nicht zu überbieten, wenn zum Beispiel Herr Beuth sagt, dass die Gewalt nur im falschen Stadtteil stattgefunden habe. Das geht nicht, da muss es eine Abwendung geben.
Wann reißt denn der Geduldsfaden?
Der ist gerissen.
Glauben Sie an das Modell Hafenstraße für die Rote Flora?
Das hat damit nichts zu tun. Es gibt dort klare rechtliche Verhältnisse.
Es gibt insoweit eine Parallele, als auch in der Hafenstraße früher massive Straftaten verübt wurden und am Ende die Bewohner doch dort geblieben sind – mittlerweile auch friedlich.
Für mich war klar, als ich Bürgermeister wurde: Hafenstraße, Rote Flora und Gängeviertel sind da. Aber ich will keine weiteren solcher Einrichtungen. Das habe ich durchgesetzt, zum Teil im Konflikt, siehe Münzviertel. Wir müssen uns einig sein: Gewalt ist nicht chic, sondern sie ist furchtbar. Dass die Rote Flora schon fast 30 Jahre existiert und wechselnde Regierungen daran nichts geändert haben, heißt nicht, dass in den nächsten Jahren alles so bleibt, wie es ist. Da muss etwas passieren.
Fürchten Sie einen heißen Herbst?
Dafür gibt es keine Anhaltspunkte.
Wo steht die Rote Flora in einem Jahr? Denken Sie bei dem jetzt laufenden Prozess in Wochen, Monaten oder Jahren?
Ich möchte nicht in ein paar Jahren noch über das Thema diskutieren, sondern es sollen dann alle sagen: Es gibt kein Problem mehr.