Mittelkirchen. Klimakrise, Pandemie, Krieg, Inflation: Bio-Bäuerin Kerstin Hintz muss sich täglich auf neue Herausforderungen einstellen.
Klimawandel, Corona-Pandemie, Krieg, Inflation, Energiekrise – Themen, die Deutschland und die Welt bewegen und die Nachrichten dominieren. Wie sehr die Probleme in das Alltagsleben auch jener Menschen hineinwirken, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar davon betroffen zu sein scheinen, zeigt ein Besuch auf dem Biohof Ottilie im Alten Land. Die Idylle am Deich – von Kerstin Ottilie Hintz über 20 Jahre hinweg aufgebaut – hat Risse bekommen.
Die Sorgen sind größer, das Nervenkostüm dünner. Sie sitzt am Holztisch im Garten ihres wunderschön gelegenen Biohofs in Mittelkirchen und blickt skeptisch in den Himmel: „Da kommt ja wieder nichts runter“, sagt sie. Hintz sehnt den Niederschlag herbei. Sie zeigt Äpfel mit Sonnenbrand. „Die Früchte verbrennen am Baum“, sagt die Betreiberin des kleinen Biohofs hinterm Lühe-Deich.
Biohof Ottilie im Alten Land: Trockenheit bereitet große Sorgen
Im Gegensatz zu den konventionellen Höfen in der Nachbarschaft gibt es bei ihr keine energieintensive Beregnung, die die Früchte vor starker Sonneneinstrahlung schützen könnte. Daher sind die Einbußen jetzt zur Erntezeit bei manchen Sorten hoch. Die Trockenheit ist eine von Hintz’ großen Sorgen.
Dabei ist es einfach nur schön zwischen den alten Apfelbäumen, dort wo Hochzeitsfeiern, freie Trauungen oder Seminare unter freiem Himmel auf der Apfelgartenterrasse stattfinden können. Noch bis vor kurzem saßen hier auch regelmäßig Ausflügler, das Hof-Café Ottilie, benannt nach Hintz’ Großmutter, war ein riesiger Erfolg. Doch mit Corona kam der Umbruch. „Das war ein sehr harter Einschnitt und hat uns alle sehr gefordert“, sagt Kerstin Hintz. Als die Gastronomie wieder anlaufen konnte, saßen die Gäste zwar schnell wieder gern und lange bei „Ottilie“, doch es mangelte zunehmend an Personal und ausreichend Umsatz.
Pandemie ist weitere große Sorge von Bio-Bäuerin im Alten Land
Hintz musste reagieren und ihr Gastronomie-Konzept und die Öffnungszeiten anpassen. Die Pandemie und ihre Folgen – das ist eine weitere große Sorge von Kerstin Hintz.
Bei Altländer Obstbauern wird permanentes Lamentieren schon fast als genetisch vorausgesetzt. Doch Hintz gehört nicht zu denen, die ständig jammern. Sie hat sich immer wieder neue Wege erschlossen, ihren Betrieb und ihr Angebot stetig neu justiert. Hintz wuchs auch gar nicht hinter einer Altländer Prunkpforte auf, sondern jenseits des Klischees im Hamburger Westen. Zusammen mit ihrem Mann übernahm sie den 170 Jahre alten Apfelhof vor knapp 20 Jahren als Quereinsteigerin. Seither hat sie ihn mit vielen neuen Ideen breit aufgestellt.
Alte Apfelsorten, Birnen und Beeren
Auf ihrer Bioland-zertifizierten Scholle baut sie extensiv nicht nur alte Apfelsorten, Birnen und Beeren an, es gibt auch einen Hofladen zur Direktvermarktung, eine Manufaktur zur Verarbeitung der eigenen Erzeugnisse und weiterhin Gastronomie – allerdings überwiegend nur noch im Rahmen geplanter Veranstaltungen: Hochzeiten, Tagungen, Lesungen, Frühstücks- und Brunch-Buffets oder ihre „Farm to Fork“-Events, die sie zusammen mit dem Sternekoch Jens Rittmayer durchführt.
„Wir werden die Gastronomie im neuen Jahr nur noch gezielt öffnen und möchten den Ort zusätzlich auch anders anbieten, zum Beispiel als Foto- oder Filmkulisse“, sagt Hintz. Ein weiteres wichtiges Standbein ist ein Online-Shop, über den die „Ottilie“-Produkte gekauft werden können. Als jüngste Innovation hat die Bio-Bäuerin zudem einen Lieferservice aufgebaut, um Obstkörbe sowie kleine und große Gemüsekisten mit wechselnden Gemüse in Bio-Qualität zu Menschen zu bringen, die gern kochen und Wert auf gesunde Produkte und Regionalität legen. Das Gemüse stammt, wie andere Produkte aus ihrem Hofladen auch, von Kooperationspartner aus der Region, die das gleiche Wertesystem wie Hintz vertreten. Die Gemüsekisten enthalten oft Rezeptvorschläge und können mit anderen Produkten aus dem Hofladen ergänzt werden – zum Beispiel mit „Ottilies“ veganem Altländer Apfel-Ketchup, mit denen es Kerstin Hintz unter die Top 100 der regionalen Lebensmittel in Niedersachsen schaffte. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ernannte sie daraufhin zur „Kulinarischen Botschafterin des Landes Niedersachsen“.
Kerstin Hintz fungiert gern als Genussbotschafterin, will es aber nicht dabei belassen
Kerstin Ottilie Hintz fungiert gern als Genussbotschafterin, aber sie will es nicht dabei belassen: „Ich war früher nicht so politisch“, sagt sie. „Aber jetzt möchte ich nicht mehr still sein, denn die Zeit läuft uns davon. Was aktuell gemacht wird, reicht nicht aus, um unsere Zukunft und die unserer Kinder zu sichern.“ Auf ihrem kleinen Hof ist merklich, wie komplex alles ineinandergreift, wie Krisen sich überlagern und gegenseitig verstärken. Klimawandel und Trockenheit, Pandemie, Inflation und Energiekrise. „Die Kosten laufen uns davon“, sagt Hintz. Sie ist im Vorstand der Bioland-Vereinigung aktiv und engagiert sich in Netzwerken wie der Regionalwert AG. Doch es klingt ein wenig resigniert, wenn die Streiterin für ein Leben im Einklang mit der Natur sagt: „Es ist schade, dass unsere regionale Spezifik trotz aller Bemühungen nicht ausreichend gewürdigt wird.“ Auf den herkömmlichen Produkten stünden die eigentlichen Kosten nicht, so Hintz.
Ausgelaugte Böden, hoher Wasserverbrauch, Massentierhaltung und gespritzte Pflanzen haben ihren Preis, erklärt sie: „Die Produktion von Nahrungsmitteln im herkömmlichen Sinn zerstört die Umwelt, Böden werden durch Dünger und Pestizide belastet, ein intensiver Gemüseanbau sorgt für Wasserknappheit. Wenn die Menschheit so weitermacht, gräbt sie sich ihre eigene Zukunft ab.“
Was nicht direkt verkauft wird, kommt auf den Teller
Hintz registriert zwar gerade bei jungen Leuten ein Umdenken, doch ihre Befürchtungen wachsen, dass angesichts der explodierenden Preise auch an Lebensmitteln wieder vermehrt gespart wird. „Ich fordere, dass die Mehrwertsteuer auf ökologisch erzeugte Lebensmittel gesenkt wird“, sagt sie. „Wir brauchen einen kompletten Transformationsprozess.“ Kerstin Hintz war von Anfang an bestrebt, auf ihrem Hof eine krisenresistente Kreislaufwirtschaft zu betreiben – was nicht direkt verkauft wird, kommt auf den Teller, ins Glas oder in die Flasche. „Wenn aber so massiv ins Klima eingegriffen wird, leiden wir natürlich ebenso darunter“, sagt sie.
Biohof im Alten Land: Bei Regen steigen Hintz Tränen in die Augen
Die Altländerin pflegt nicht nur ihren Hof mit Hingabe, sondern auch ihre Netzwerke. Sie braucht den Austausch mit anderen, engagiert sich als Mentorin für kleinere Betriebe, die „bio“ werden wollen. Sie gibt ihre Erfahrungen weiter und begrüßt gern Gäste auf ihrem Hof.
Es könnte so idyllisch sein. Hier hinterm Lühe-Deich. Wenn die vielen Sorgen nicht wären. Da öffnet der Himmel seine Schleusen und es gießt plötzlich wie aus Kübeln. Hintz steigen Tränen in die Augen. „Endlich“, sagt sie. Der Regen sorgt dafür, dass die Hoffnung wieder Nahrung bekommt. „Ottilies“ Kampfgeist erhält mit jedem Tropfen neue Kraft.