Georgswerder. Nach dem Tod des Inhabers stand die Schneiderei für Zunftkleidung Paulsen vor dem Aus. Die Geschichte einer Rettung über Nacht.

Pilotstoff, Webart Deutschleder. Schwarz oder Hamburger Strich. Ledereingefasste Taschen, Hosenlatz mit zwei Reißverschlüssen oder Schlitz mit einem 80er-Schlag – mindestens. Die Veddelhose, Freizeitversion der klassischen Zunfthose, war das Hamburger Kult-Kleidungsstück der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre, hergestellt von Hand in einer kleinen Näherei in Georgswerder.

Dort wird sie heute noch gemacht, auch, wenn sie dieser Tage weniger nachgefragt ist, als die anderen Produkte von „R. Paulsen – Original Veddel“. Das wären Zunft- und Motorradbekleidung. Trotzdem kommen auch immer noch angegraute Käufer, um sich in den Hosen ihrer Jugend wieder jung zu fühlen und junge, die heute aussehen wollen, wie die Alten früher.

Der Textilunternehmer Henning Brandt hat die Firma gekauft und will sie weiterführen

Auf der Veddel wurden die Veddelhosen übrigens nie gemacht. Georgswerder gehört zu Wilhelmsburg. Auf der Veddel war lediglich die nächstgelegene Straßenbahnhaltestelle. Von dort mussten die Kunden noch fast einen Kilometer laufen. Der Bus fuhr selten. 55 Jahre lang war „R. Paulsen – Original Veddel“ am Georgswerder Hauptdeich zu Hause. Im Sommer zieht die Firma nun nach Maschen. Das ist nicht etwa das Ende einer großen Tradition, sondern ihre Rettung.

Mit einer Elektro-Schere schneidet Sylvia Königsberger Hosenbein-Teile aus dem Breitcord.
Mit einer Elektro-Schere schneidet Sylvia Königsberger Hosenbein-Teile aus dem Breitcord. © HA | Lars Hansen

Der Textilunternehmer Henning Brandt hat die Firma gekauft und will sie weiterführen. Nachdem Inhaber Carsten Paulsen im vergangenen Jahr plötzlich und ohne Nachfolger verstorben war, stand die Traditionsnäherei vor dem Aus. „Ich musste mich schnell entscheiden“, erinnert sich Henning Brandt. „Sonst wäre die Firma abgewickelt worden. Die Kündigungen für die Mitarbeiter waren schon geschrieben und sollten am nächsten Tag ausgesprochen werden.“

Zimmerleute und Dachdecker bekommen hier ihre Kluft – maßgeschneidert

Das wäre nicht nur für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Schlag ins Kontor gewesen, sondern auch für die Stammkundschaft – zum einen solche Motorradfahrer, die handgenähte Lederschutzkleidung immer noch vorkonfektionierten Funktionstextilien vorziehen. Zum anderen, und das hauptsächlich, Bauhandwerker. Die waren schon immer das wichtigste Standbein der Firma Paulsen. Maurer, Zimmerleute, Bautischler, Dachdecker und andere Traditionsberufe wissen traditionelles Handwerk auch in anderen Bereichen zu schätzen und bekommen das bei Paulsen.

Krauter aus ganz Norddeutschland schicken ihre Belegschaften zum Einkleiden her oder nehmen den Service in Anspruch, den Carsten Paulsen einst persönlich leistete. Sie lassen ihre Gesellen, Lehrlinge und sich selbst auf ihrem Betriebshof oder direkt auf der Baustelle von einem Paulsen-Mitarbeiter vermessen, damit die Kluft dann auf Maß angefertigt werden kann.

Bis zu 800 Gramm wiegt der Trenkercord pro Quadratmeter

Hosen und Jacken aus Breitcord, die Hosen mit Doppelllatz, die Jacken mit zwei Knopfreihen, breitkrempige Hüte. Jedes Stück wird individuell angefertigt, nicht nur nach Maß, sondern auch nach Wunsch. Farbliche Applikationen oder Firmenlogos, bedarfsgerechte Werkzeugtaschen und hier und da auch eine Geheimtasche für die Wertsachen auf der Walz. Die Kluft ist schwer: Bis zu 800 Gramm wiegt der Trenkercord (ja, benannt nach dem berühmten Tiroler) pro Quadratmeter.

Das Paulsen-Stammhaus in Georgswerder wird aufgegeben. Die Firma zieht von hier nach Maschen um.
Das Paulsen-Stammhaus in Georgswerder wird aufgegeben. Die Firma zieht von hier nach Maschen um. © HA | Lars Hansen

Zweieinhalb Meter davon werden allein für eine Hose benötigt, bei einer Stoffbahnbreite von 150 Zentimetern und allerhöchstens 20 Prozent Verschnitt wiegt die Büx schon über zwei Kilo. Jacke, Hut und harte Schuhe kommen hinzu. Auch der Stoff kommt übrigens noch aus Norddeutschland: Die Weberei sitzt im niedersächsischen Bad Bentheim.

„Aus Afghanistan, Irak und Syrien sind sehr gute Schneider nach Deutschland gekommen“

Das muss man auch nähen können, und das können nicht mehr viele. „Die Textilfertigung, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa ist nahezu aufgegeben worden“, sagt Henning Brandt. „Es gibt kaum noch qualifiziertes Personal. Wir können derzeit mehr verkaufen, als wir nähen können.“

Seine acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter will Brandt deshalb unbedingt halten. Um noch mehr hinzuzugewinnen, hofft er auf die Flüchtlinge der vergangenen Jahre. „Vor allem aus Afghanistan, dem Irak und Syrien sind sehr gute Schneider nach Deutschland gekommen, die jetzt hier in Hilfsjobs gelandet sind. Eigentlich suchen die qualifizierte Arbeit, und wir haben diese Jobs. Wir müssen nur zueinander finden. Einen Mitarbeiter habe ich so schon gefunden. Ein weiterer wird gerade eingearbeitet.“

Brandt musste sich über Nacht entscheiden – und tat das auch

Brandt ist kein Neuling, was Arbeitsbekleidung angeht. Der 59-Jährige ist seit über drei Jahrzehnten im Geschäft. Davor hat er sich mit Sporttaschen und T-Shirts herangetastet. Allerdings hat Brandt bislang andere Branchen mit anderen Artikeln und in anderen Umfängen beliefert. Massenweise industriegefertigte Supermarktkittel beispielsweise: „Ich war der erste, der für einige große Discounterketten interne Online-Shops entwickelt hat, in denen die Mitarbeiter sich die Arbeitskleidung ohne Umwege in die Filiale ordern konnten“, sagt er.

Angelika Sauer überträgt Maße auf den Stoff.
Angelika Sauer überträgt Maße auf den Stoff. © HA | Lars Hansen

Vor einigen Jahren hat er dieses Großkundengeschäft in eine andere Firma ausgegründet und diese verkauft. Mit seiner aktuellen Firma „BRNDS Teamtex“ vertreibt er Arbeitsbekleidung für kleine Praxen, Gastronomiebetriebe und auch für Handwerker. „Nur die klassischen Baugewerbe haben mir immer wieder zu verstehen gegeben, dass ich es bei ihnen gar nicht erst versuchen muss, weil sie bei Betrieben wie Paulsen einkaufen.“

Eine Mitarbeiterin als eigentliche Chefin – und der neue Inhaber muss noch viel lernen

Über einen Makler und bei einem privaten Anlass hörte Brandt, dass „R. Paulsen – Original Veddel“ zum Verkauf stand. Schon zu Lebzeiten hatte Carsten Paulsen versucht, einen Nachfolger für die Betriebsübernahme zu gewinnen, aber ohne Erfolg. Jetzt war es schon fast zu spät. Brandt musste sich über Nacht entscheiden und tat das auch. „Sonst wären hier das ganze Know-how und die Tradition plattgemacht worden“, sagt er.

Nach Carsten Paulsens Tod hatte zunächst seine Mitarbeiterin Doris Rehder die Leitung der Firma übernommen. „Wenn man ehrlich ist, ist sie auch immer noch die eigentliche Chefin und ich muss noch viel lernen“, sagt Brandt, „über die Kundschaft, die Produkte, die Produktion und wie das organisiert ist.“

Am Stammsitz will Brandt die Firma allerdings nicht belassen. „Original Veddel“ befindet sich im Erdgeschoss und Untergeschoss eines Mehrparteien-Wohnhauses. „Hier ist viel improvisiert, an- und umgebaut, eng und verwinkelt. Das sieht charmant aus, stört aber die Arbeitsabläufe. Wir wollen weiter handwerklich produzieren, aber nicht unnötig hin- und herlaufen müssen. Deshalb brauchen wir neue Räume, und die Mitarbeiter freuen sich schon darauf und dürfen mitplanen. Der Markenname Original Veddel bleibt übrigens auch. Nur das Logo wird ganz leicht modernisiert.“