Seevetal. Als Kind verlor Majed Sajid ein Bein. Heute spielt der junge Meckelfelder für den HSV in der Amputierten-Fußball-Bundesliga. Er will mehr.
Er hörte sie kommen. Die Flugzeuge. Noch waren sie nicht zu sehen. Aber irgendwo dort oben am strahlend blauen Himmel über der syrischen Stadt Deir ez-Zor mussten sie sein. Majed Sajid war damals sechs. Ein kleiner Junge, der Flugzeuge liebte und davon träumte, irgendwann als Pilot zu arbeiten. Jetzt aber wollte er die Flugzeuge sehen. Also rannte er los. Seine kleinen Beinchen trugen ihn hinaus auf die Straße. Und plötzlich war überall Blut.
Majed Sajid erinnert sich noch genau an jenen Tag, als ein Bombensplitter sein rechtes Bein zerschoss. Daran, wie er plötzlich umfiel. Und man ihn wegtrug, obwohl er keine Schmerzen verspürte. Er erinnert sich an die Wochen im Krankenhaus, an die Rückkehr zu seinen Eltern und den neun Geschwistern. Daran, wie er lernen musste, mit einem Bein zu leben. Und wie er Stück für Stück mit Krücken zurück ins Leben humpelte. In seiner Heimat tobte der Krieg. Die Armut war groß. Majed konnte nicht mehr mit den anderen Kindern Fußball spielen. Und dennoch sagt er heute: „Ich hatte eine glückliche Kindheit in Syrien.“
In der Gemeinde Seevetal findet Majed Sajid ein neues Zuhause
Als der Bürgerkrieg 2015 zunehmend eskaliert, fliehen seine Eltern mit den Kindern nach Deutschland. Freunde, Teile der Familie, das gewohnte Umfeld muss der damals Achtjährige zurücklassen. „Der Abschied fiel mir unheimlich schwer“, sagt er. „Ich hatte das Gefühl, alles zu verlieren.“ Heute weiß er, dass es richtig war, zu gehen.
In der Gemeinde Seevetal findet Majed Sajid ein neues Zuhause, Freunde und Menschen, die an ihn glauben und ihn dabei unterstützen, seinen Traum zu erfüllen. Der 16-Jährige möchte Fußballprofi werden, im Amputiertenfußball bis in die deutsche Nationalmannschaft aufrücken. Er gehört zu den großen Talenten in Deutschland, spielt für den HSV in der Amputierten-Fußball-Bundesliga und trainiert hart, um sein großes Ziel zu erreichen.
Um möglichst viele Punktspiele und Turniere bestreiten zu können, reist er quer durch die Republik. Nebenbei paukt er für die Schule, will eine Ausbildung oder das Abitur machen und so bald wie möglich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Denn nur, wenn er diese hat, darf er für das Land, das ihm Heimat geworden ist, auf internationaler Ebene antreten.
Sein Optimismus trägt ihn durchs Leben
Der Zehntklässler ist optimistisch, dass er sein sportliches Ziel erreichen kann. Weil er an sich glaubt, auch in schwierigen Zeiten nie den Mut verloren hat. Es ist sein Optimismus, der ihn durchs Leben trägt und ihm die Kraft gibt, auch nach Niederlagen wieder aufzustehen – nach vorn zu schauen, statt zu verzweifeln. Dieser Glaube an das Gute hat ihm immer wieder Kraft gegeben. Damals, 2015, auf der Flucht, als seine Eltern und die Geschwister in ein völlig überladenes Boot steigen, um das Mittelmeer zu überqueren. Auch als sein Vater 2016 an Krebs stirbt, bleibt Majed stark. Und er gibt nicht auf, als ihn die Mitschüler in Deutschland auslachen, weil er mit ihnen Fußball spielen möchte, obwohl er doch nur ein Bein hat.
Die Familie findet eine Bleibe in Meckelfeld im Landkreis Harburg. Dort trifft er 2019 das erste Mal auf Sonja Wilhelm. Sie begleitet an der dortigen Oberschule Seevetal Hauptschüler auf dem Weg ins Berufsleben. „Ich kannte Majed vom Sehen“, sagt sie. „Er ist ein auffälliger Typ, grüßt immer freundlich und kommt mit den Krücken schneller die Treppe rauf als alle anderen.“ Über seine Schwester erfährt sie von Majeds Wunsch, Fußball zu spielen. Und davon, dass die umliegenden Vereine keine Möglichkeit sehen, ihn in die Teams zu integrieren. „Beim TV Meckelfeld durfte Majed zwar mittrainieren, aufgrund seiner Behinderung jedoch nicht an Punktspielen teilnehmen“, sagt Sonja Wilhelm. „Nicht einmal bei Testspielen kam er zum Zug.“
„Ich fühlte mich ausgeschlossen und abgewertet“
Für Majed bricht damals eine Welt zusammen. „Ich fühlte mich ausgeschlossen und abgewertet“, sagt er. „Ich wollte nie mehr Fußball spielen.“ Eine Entscheidung, die Sonja Wilhelm und ihr Mann Joachim so nicht stehen lassen wollten. „Majed ist motorisch ein Phänomen. Und zudem ein ganz besonderer Mensch“, sagt sie. Und: „Er ist ein riesiges Fußballtalent.“ Sie entscheidet, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. „Meine beiden Töchter sind erwachsen, ich habe die Zeit mich zu kümmern“, sagt sie. „Und es macht mir Freude, Majed zu unterstützen.
Die 56-Jährige hört sich um, wendet sich schließlich an sich an den gemeinnützigen Verein „Anpfiff ins Leben“, dessen Ziel es ist, den Amputiertenfußball, bei dem Feldspieler beinamputiert sind und auf Krücken spielen, in Deutschland bekannter zu machen. 2020 fährt sie Majed das erste Mal zum Training bei den Sportfreunden Braunschweig. „Die Mannschaft hat mich super aufgenommen“, erinnert er sich. „Das Training war professionell und hat Spaß gemacht.“
Für Majed geht es um mehr als um einen Titelgewinn
Als der Hamburger SV 2021 sein Engagement im Amputiertenfußball verstärkt, wechselt Majed die Mannschaft. Seitdem trainiert er regelmäßig auf der Paul Hauenschild Sportanlage in Norderstedt. Regelmäßig treten die Hamburger zusammen mit den Sportfreunden Braunschweig und Tennis Borussia Berlin als Spielgemeinschaft Nord-Ost in der Amputiertenfußball-Bundesliga gegen andere Teams aus Deutschland an. Sie wollen irgendwann Deutscher Meister werden.
Doch für Majed geht es um mehr als um einen Titelgewinn. Das Fußballspielen gibt ihm zurück, was er im Krieg verloren hat. Er ist sein Ausgleich, seine Kraftquelle und der wichtigste Halt in seinem Leben. „Im Alltag gibt es so viel Druck, so vieles, was einen belastet“, sagt er. „Wenn ich am Ball bin, kann ich all das vergessen.“