Brackel. Sollte die neue Trasse durch den Landkreis Harburg kommen, würde sie quer über den Sportplatz des MTV Brackel verlaufen.

Sollte die Bahn eine neue ICE- und Gütertrasse von Hamburg nach Hannover durch den Landkreis Harburg bauen, bleiben Menschen und Betriebe, Dörfer und wertvolle Naturräume auf der Strecke. Die Sorge der Betroffenen, die in diesem Korridor leben, ist groß. Werden sie ihre Häuser verlieren? Eines Tages an einem 20 Meter hohen Bahndamm wohnen? Werden sie ihre Felder nicht mehr erreichen können und ihre Dörfer inselartig eingeschlossen sein? Das Abendblatt hat Betroffene an der Strecke besucht und sie gefragt, was die Trasse für sie bedeutet.


Teil 10: Anja Wiegel und Christian Deppner vom MTV Bracke
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Sie kann es einfach nicht begreifen. Wie so etwas passieren kann, ohne dass auch nur ein einziger Mensch mit ihr geredet hat. Fassungslos schaut Anja Wiegel aus der großen Fensterfront des frisch renovierten Vereinshauses auf den Sportplatz des MTV Brackel. Ein Ort, an dem nicht nur Fußball gespielt und Leichtathletik gemacht wird, sondern Tradition gelebt und zwischenmenschliche Solidarität praktiziert wird.

Seit mehr als 100 Jahren sorgt der Verein dafür, dass die Menschen in der Region zusammenkommen, sich fit halten, Erfolge feiern und die Gemeinschaft pflegen. „Hier treffen sich Generationen zum Sportabzeichen, hier werden Familienfeste gefeiert und Turniere gespielt“, sagt Anja Wiegel. „Der MTV Brackel ist für viele das Herz der Region. Hier verbringen sie ihre Kindheit, ihre Jugend und sind auch später noch aktiv dabei, wenn die eigenen Kinder auf dem Platz stehen.“

Zum alljährlichen Sport- und Familienfest kommt das halbe Dorf zusammen

Trassenplanung Bahn HH-Hannover, LK Harburg HA Grafik, HA Infografik
Trassenplanung Bahn HH-Hannover, LK Harburg HA Grafik, HA Infografik © HA Grafik, HA Infografik, F. Hasse | F. HasseFrank Hasse

Anja Wiegel, 1. Vorsitzende des Vereins, hat selbst als Jugendliche hier trainiert. Sie weiß, dass das Vereinsleben für die Menschen in den Dörfern ungeheuer wertvoll ist. „Sie schätzen ihren Verein nicht nur, weil sie dort etwas für ihre Gesundheit tun können, sondern vor allem als Ort der Begegnung, zum Kennenlernen und Miteinander“, sagt Anja Wiegel.

Es gehe beim Vereinsleben um gemeinsame Bewegung, den persönlichen Austausch, um Ehrenamt, Integration und Verständigung. Zum alljährlichen Sport- und Familienfest im September komme das halbe Dorf zusammen. „Im vergangenen Jahr waren es 170 Kinder“, so die Vereinsvorsitzende. „Von einem Verein lebt ein Dorf.“

Eine neue Trasse durch die Lüneburger Heide, vorbei an Brackel, Garlstorf und Evendorf

Doch ob der Traditionsverein 2035 sein 125-jähriges Jubiläum wird feiern können, ist derzeit völlig unklar. Denn genau dort, wo sich täglich dutzende Jungen und Mädchen, Männer und Frauen zum Training versammeln, könnten schon in ein paar Jahren gewaltige Baufahrzeuge unterwegs sein. Wie berichtet, will die Deutsche Bahn im Rahmen des Deutschlandtakts die Strecke zwischen Hamburg und Hannover ausbauen.

Um die Fahrzeit des ICE zwischen den Städten auf 59 Minuten zu senken, hat das Unternehmen vier mögliche Streckenvarianten geprüft, darunter auch eine Neubautrasse durch den Landkreis Harburg. Diese würde unter anderem durch die Lüneburger Heide verlaufen, vorbei an Brackel, Garlstorf und Evendorf. Die Pläne sorgen in der Region für massive Proteste. Auch Anja Wiegel und Christian Deppner gehören zu den Gegnern. Denn diese würde unmittelbar über die Sportplätze des MTV Brackel verlaufen. „Für den Verein würde die Trasse das Aus bedeuten“, sagt Anja Wiegel. 700 Mitglieder blieben damit auf der Strecke.

Die Deutsche Bahn verstecke sich hinter der Politik – das sei inakzeptabel

Für Anja Wiegel und Christian Deppner sind die Planungen der Bahn in keiner Weise nachvollziehbar – und sie kamen zudem völlig überraschend. Schließlich hatte man sich in Brackel schon vor acht Jahren intensiv mit dem Thema Streckenausbau beschäftigt. „Schon damals hatte es große Proteste in der Region gegeben, die schließlich zu einem gemeinsamen Dialogforum von Bahn, Bund, Land und Kommunen geführt haben“, sagt Christian Deppner. Das Ergebnis mit dem Namen Alpha-E, das den Ausbau der Bestandsstrecke über Lüneburg vorgesehen habe, sei anschließend in den Bundesverkehrswegeplan eingestellt worden. „Aus meiner Sicht war die Einigung damit gesetzlich gebunden“, so Deppner. „Da muss man sich doch dran halten.“

Doch Deppner, Vorsitzender der Bürgerinitiative „X durch Y“, wurde eines Besseren belehrt. Schon 2016 begann die Bahn eine andere Variante zu planen: eine Neubaustrecke entlang der A7. Erst im Sommer 2022 sickerten die Planungen im Landkreis durch. „Eigentlich sollte davon wohl keiner hier wissen“, vermutet Deppner. „Das Thema ist aus Versehen aufgeploppt.“ Ein Unding sei das gewesen, wie die Bahn gehandelt habe. „Bei Großprojekten wie dem Deutschlandtakt muss man die Leute doch mitnehmen“, sagt er. „Dass müssen Bahn und Bund doch inzwischen gelernt haben.“ Die Deutsche Bahn habe einen öffentlichen Auftrag. Doch sie verstecke sich hinter der Politik. Das sei inakzeptabel.

500.000 Euro hat der Verein in den Umbau des Vereinshauses investiert

Auch Anja Wiegel hätte sich mehr Transparenz in diesem für das Land so wichtigen Thema gewünscht. Zumal die Bahn ja bereits 2016 mit Trassenplanung begonnen habe, die weit von dem abgewichen sei, was beschlossen gewesen war. „Man hätte uns informieren müssen“, findet sie. Denn dann hätte auch der Verein anders geplant und auf einen Umbau des Vereinshauses verzichtet. „Wir haben 500.000 Euro in das Gebäude investiert“, so Wiegel.

Viele tausend Stunden Eigenleistung seien in das Vereinsheim geflossen. Es gebe nun einen Mehrzweckraum für Mannschaftsbesprechungen, Yogagruppe und funktionelles Training, eine separate Küche und neue Umkleideräume sowie eine riesige Fensterfront zum Sportplatz, durch die die Zuschauer auch bei schlechtem Wetter das Spiel der Ersten Herren verfolgen können. Diese spielen erfolgreich in der 1. Kreisklasse und hoffen aufzusteigen.

Anja Wiegel vom MTV Brackel und Christian Deppner, Vorsitzender der Bürgerinitiative
Anja Wiegel vom MTV Brackel und Christian Deppner, Vorsitzender der Bürgerinitiative "X durch Y" engagieren sich gegen eine Neubaustrecke der Bahn.  © HA | Hanna Kastendieck

Die jungen Männer kämpfen aber nicht nur für den sportlichen Erfolg. Sie kämpfen auch für den Erhalt ihrer Sportplätze und für die Zukunft ihres Vereins. Viele von ihnen sind in der Bürgerinitiative aktiv, unterstützen die Proteste, die Christian Deppner gemeinsam mit den Dorfbewohnern organisiert. Diese haben Fackeln entlang der Neubautrasse angezündet, einen virtuellen ICE über den Sportplatz rasen lassen und versuchen, das Projekt mit sachlichen Argumenten zu begleiten.

Die Bahn solle sich erstmal um andere Baustellen kümmern

„Der Deutschlandtakt ist eine gute Idee“, findet Deppner. „Aber er kommt 30 Jahre zu spät. Die Fläche, die die Neubautrasse versiegelt, ist so groß wie Berlin“, sagt er. „Wie können wir so ein Bauwerk im Jahr 2022 angesichts von Klimawandel und Krieg vertreten?“ Natürlich brauche man die Bahn, aber keine noch schnelleren Züge. Und vor allem brauche man ein funktionierende Schienennetz. „Wir haben 4000 marode Brücken, es fehlen 20.000 Weichen“, sagt Deppner. „Diese Themen soll die Bahn erstmal anfassen.“

Und dann müsse sich die Politik zusammensetzen und ganz ehrlich die Frage stellen, was man überhaupt noch brauche. „Wir müssen uns endlich mal ein wenig zurücknehmen, weniger konsumieren, weniger unterwegs ein“, findet Deppner. „1000 Kilometer weiter ist Krieg und wir feiern hier Karneval bis zum Abwinken. Was für ein Wahnsinn.“