Landkreis Harburg. Der emeritierte Hauptpastor des Michel Helge Adolphsen schreibt alle zwei Wochen im Abendblatt. Heute über einen deutschen Afghanen
Ein Freund erzählte mir von einem geselligen Abend mit Bekannten. Er habe das Thema „Afghanistan“ angesprochen, weil es ihn bedrängte. Die anderen waren überhaupt nicht interessiert und wechselten über zum Small Talk. Er war schockiert. Ich teile sein Unverständnis. Dass da noch 40.000 Tausend auf die Ausreise warten, die als Ortskräfte mit den deutschen Soldaten zusammengearbeitet haben, viele sich in großer Angst in Kellern verstecken, lässt meinen Freund und mich nicht kalt. Auch Dr. Reinhard Erös nicht.
Der ehemalige Oberstarzt der Bundeswehr und Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“ sorgt sich sehr um diejenigen, die jetzt als „Verräter“ in Lebensgefahr sind. Er sagt als langjähriger Kenner des gebeutelten Landes, dass die Taliban gelernt haben. Und betont auch, dass die moderaten Taliban mit den Kämpfern des IS verfeindet sind. Man sollte diese beiden Gruppen unterscheiden. Die ungebildeten Taliban schießen so schnell wie die vom IS. Erös hat Angst, dass sie in entscheidende Positionen kommen.
Er war mehrfach in den Krisengebiete der Welt unterwegs
Er war seit 1981 mehrfach mit internationalen Hilfsorganisationen in den Krisengebiete der Welt unterwegs. 1986 nahm er für vier Jahre Urlaub von der Bundeswehr und arbeitete als Arzt in Afghanistan und den Nachbarländern, oft mit großem persönlichem Risiko. Zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern gründete er 1998 die Familienstiftung „Trütz-Erlös-Stiftung“. Mit ihr unterstützt er im Sinne qualifizierter Entwicklungshilfe Kinder und Frauen mit schulischen und medizinischen Projekten. 2002 schied er mit 54 Jahren aus der Bundeswehr aus. Er konnte als Kenner des Landes die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan nicht mittragen. Auf Grund seiner reichen Erfahrung setzt er auf Gespräche mit den Taliban und plädiert für politische Verhandlungen.
Sein vorrangiges Ziel ist es, Schulen für Kinder zu bauen und medizinisch zu helfen. Er gründete eine Schule für Mädchen im Großraum Kabul und 12 weitere Friedensschulen. „Es gibt viele Kinder, aber wenig Kindheit“ – das Zitat aus dem spannenden Buch „Drachenläufer“ des Afghanen Khaled Hossein ist seine Motivation. Fast die Hälfte aller Kinder ist dort jünger als 15 Jahre. Sie leben mit ihren Familien in großer Armut auf dem Land und in den Bergen. 2014 hat Erös die erste private Universität eröffnet, an der auch Frauen studieren.
Taliban sollen Wiedereröffnung der Mädchenschule zugestimmt haben
Die von ihm errichteten Kliniken mussten am 21. August kurzzeitig geschlossen werden, ebenso die berufsvorbereitende Mädchenschule. In einem Interview berichtet er, dass die Taliban der Wiedereröffnung zugestimmt haben. Sie wollen, dass Mädchen zur Schule gehen. Eine komplette Verschleierung verlangen sie nicht. Die Mädchen kommen weiter mit traditionellem Kopftuch in die Schule. Im Norden sind die Taliban kooperativ. Sie haben gelernt. „Ich glaube, dass sie nur eine Chance haben, wenn sie den Menschen Freiheiten geben. Sie wollen nicht die Fehler von vor 20 Jahren wiederholen.“
Erös hat bisher weltweit 3000 Vorträge gehalten und ist vielfach ausgezeichnet worden. Er hat auch zwei interessante und lesenswerte Bücher über seine Erfahrungen und Einsichten mit den bezeichnenden Titeln geschrieben: „Tee mit dem Teufel“ und „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“. Sein Lebenswerk wird ausschließlich durch Spenden finanziert. Erös hat Respekt und Bewunderung verdient. Denn er hat Respekt und Gewaltlosigkeit verinnerlicht. Sie sind die Basis seiner Arbeit. Respekt auf Augenhöhe ist mehr als billige Toleranz.
Frieden lässt sich mit militärischer Stärke nicht erzwingen
Erös hat aus eigener Erfahrung gelernt, dass es im Miteinander der Völker, der politischen Gruppen und ihrer unterschiedlichen Interessen nicht darum gehen kann, mit militärischer Stärke und Überlegenheit Frieden und Versöhnung zu erzwingen. Und dass es nicht gelingt, westliche Kultur, Demokratie und ihre Werte in ein Land zu bringen, das andere Werte und Traditionen hat. Veränderungen können offenbar nur von innen heraus geschehen, aber kaum durch Zwang und ein Überlegenheitsbewusstsein.
Friedenseinsätze im Krisen- und Kriegsgebieten sind ethisch gesehen ein zweischneidiges Schwert. Vielleicht ist Reinhard Erös mit diesen Gedanken seinen Weg vom Offizier zu einem hochengagierten Entwicklungshelfer und Anwalt für Frieden und Versöhnung gegangen. Dass er damit akzeptiert und vielfach ausgezeichnet wurde, bestätigt auch der Titel, den ihm ein wichtiger Mann der Taliban verliehen hat: „Erös – der deutsche Afghane.“