Buchholz. Zehn Turnerinnen, drei Turner, Angehörige und Trainer aus der Ukraine haben bei Blau-Weiss Buchholz eine neue Familie gefunden.

Extrem aufregende und emotional berührende Wochen hat sie hinter sich. Da war es nur eine kleine Randnotiz, dass sie nicht wie gewohnt ihren Geburtstag feiern konnte. „Mir reicht es, wenn ich am Wochenende einen Nachmittag mit meiner Familie zusammensitzen kann“, sagte Susanne Tidecks. Die Trainerin und Abteilungsleiterin von Blau-Weiss Buchholz war auch an ihrem Ehrentag im Einsatz für mehr als 20 Turnerinnen und Turner aus der Ukraine, die Unterschlupf gefunden haben in Buchholz – die einen nur für einige Tage, die anderen bis auf weiteres.

Sie sind mit ihrem Hilferuf nach Ausbruch des Krieges in der Heimat auf offene Ohren gestoßen – bei Tidecks, beim Vereinsvorsitzenden Arno Reglitzky, bei vielen weiteren Engagierten und Sponsoren und auch bei Politikern. Für sie alle stand und steht schnelle humanitäre Hilfe über allem. Engen Kontakt in die Ukraine hat die Blau-Weiss-Turnabteilung seit einigen Jahren.

Schon seit Jahren bestehen Kontakte zum Turnzentrum Kiew

Daniela Batrona (15), Yelyzaveta Hubareva (17) und Sasha Korzh (21) sind drei Athletinnen aus dem Turnzentrum Kiew, die einen wichtigen Teil zu den Erfolgen des Turn-Teams Kiehn Group Lüneburg-Buchholz, der zuletzt im Aufstieg in die 1. Bundesliga gipfelte, beitrugen. Zu Wettkämpfen wurde jeweils eine von ihnen eingeflogen. Auch absolvierte man gemeinsame Trainingslager.

Kurz nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar erreichten Susanne Tidecks die ersten Anrufe. Ob die Möglichkeit bestehe, auf der Flucht in Buchholz unterzukommen, so die Frage. Der konkrete Hilferuf kam von Turnerinnen, die zu diesem Zeitpunkt am Weltcup in Cottbus teilnahmen und nicht in die Ukraine zurück konnten. Die Aktion verzögerte sich, weil die Sportleitung die Anweisung gab, die Weltcupserie nicht abzubrechen, sondern zur nächsten Station nach Doha in Katar und dann weiter nach Kairo in Ägypten zu reisen.

Bürgermeister und Verwaltung signalisieren spontan Rückendeckung

Fast zeitgleich kamen Hilferufe aus dem Sportinternat in Kiew, diese Turnerinnen wollten direkt nach Buchholz. „An dem Tag habe ich sofort Kontakt mit Bürgermeister Jan-Hendrik Röhse aufgenommen, ob es in Ordnung sei, wenn wir als Sportverein die Sportler direkt zu uns holen“, berichtet der Vorsitzende Arno Reglitzky. „Er gab uns spontan Rückendeckung und sicherte Hilfe durch die Verwaltung zu, auch ohne Regelwerk zu diesem Zeitpunkt.“

Turnerinnen, Turner, Trainerinnen und Trainer aus der Ukraine lauschen der Ansprache des Vorsitzenden Arno Reglitzky (blaue Jacke).
Turnerinnen, Turner, Trainerinnen und Trainer aus der Ukraine lauschen der Ansprache des Vorsitzenden Arno Reglitzky (blaue Jacke). © HA | Markus Steinbrück

Am 7. März starteten schließlich zwei Kleinbusse und zwei Pkw mit acht Fahrern in Buchholz, um die Sportlerinnen in Hrebenne an der polnisch-ukrainischen Grenze aufzunehmen. Etwa 40 Stunden später trafen 17 Gäste in der Nordheide ein, elf fuhren weiter nach Trier, Bremen und Hanau. Die sechs Neu-Buchholzer kamen im Landgasthof Hoheluft an der B 75 unter. Die Familie Heitmann stellte sofort eine Ferienwohnung und ein Doppelzimmer zur Verfügung. „Bis heute sind unsere sechs Erstis dort zu Gast“, so Tidecks.

Zwei Abholaktionen von der polnisch-ukrainischen Grenze

Zwei Tage später folgte eine weitere Abholaktion. Diesmal trat der Hauptsponsor des Turn-Teams Lüneburg-Buchholz in Aktion. Lars Ellmer-Kiehn stellte sechs Wohnwagen seines Unternehmens zur Verfügung, Standort: das Vereinsheim am Holzweg. „Es gab weitere Sportflüchtlinge aus der Ukraine, die wir in den Wohnwagen zunächst unterbringen konnten, bevor wir sie in passende Wohnungen vermittelt haben“, so Reglitzky.

Trainerin und Abteilungsleiterin Susanne Tidecks (r.) an ihrem Geburtstag mit einigen Turnerinnen und Trainerin Svitlana Yatsenko (M.), die vorerst alle in Buchholz bleiben.
Trainerin und Abteilungsleiterin Susanne Tidecks (r.) an ihrem Geburtstag mit einigen Turnerinnen und Trainerin Svitlana Yatsenko (M.), die vorerst alle in Buchholz bleiben. © HA | Markus Steinbrück

Mittlerweile wohnen mehrere Turnerinnen mit ihren Familien in Wohnungen in der Buchholzer Wiesenstraße und in einem großen Privathaus in Ramelsloh, das Unternehmer Daniel Drue zur Verfügung stellte und sogar mit neuer Küche und Heizung ausstattete. Dort wohnen inzwischen zwölf Personen.

Cheftrainerin Irina Nadjuk bedankt sich mit emotionalen Worten

In den vergangenen Tagen waren die Kapazitäten in Buchholz komplett ausgeschöpft, weil 17 weitere Personen, teils direkt vom Turn-Weltcup, teils auf dem Umweg über Ungarn, eintrafen. Darunter auch die Cheftrainer der Ukraine für das weibliche und männliche Gerätturnen. Die meisten aus dieser Gruppe sind mittlerweile weitergereist nach Italien.

Mit emotionalen Worten bedankte sich Männer-Trainerin Irina Nadjuk: „Ein aufrichtiges Dankeschön für die Mithilfe bei der Organisation und Vorbereitung des Trainingsablaufs, für die vorübergehende Adoption, für ein Zuhause, für Essen, für echte Fürsorge und Menschlichkeit, für Wärme und einen friedlichen Himmel über dem Kopf“, schrieb sie auf ihrem Facebook-Account. „Ihr seid unsere Familie. Nicht durch Blut oder Erde, sondern durch das Leben!!!“

Junge Turnerinnen waren auch in Kiew von der Familie getrennt

Voraussichtlich zehn Turnerinnen und drei Turner werden bis auf weiteres in Buchholz bleiben. Darunter eine WM-Teilnehmerin und drei Kandidaten für die Turn-EM im August 2022 in München. Die jungen Damen im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren lebten und trainierten am Olympiastützpunkt in Kiew. „Sie lebten dort von ihrer Familie getrennt, sie leben hier von ihrer Familie getrennt. Im Moment ist das noch wie ein großes Abenteuer“, sagt Svitlana Yatsenko.

Die Trainerin hat beide Töchter mit nach Deutschland gebracht, ihr Mann blieb in der Heimat. Den Aktiven hilft es, dass sie weiterhin Aufgaben von ihrer ukrainischen Schule geschickt bekommen oder online unterrichtet werden. Und es hilft, weiter hart zu trainieren und auf sportliche Ziele hinzuarbeiten.

Hersteller Spieth schickt leihweise Olympiageräte nach Buchholz

Da hat Blau-Weiss Buchholz die nächste Aufgabe. Denn für zwei Trainingseinheiten á drei Stunden pro Tag fehlen Trainingszeiten in der gut ausgestatteten Nordheidehalle oder andersherum Geräte auf olympischem Niveau im ehemaligen Plaza-Markt. Der Turngerätehersteller Spieth hat sich bereit erklärt, leihweise Top-Geräte nach Buchholz zu schicken, die Deutsche Turn-Liga (DTL) plant einen Spendenaufruf, um die Transportkosten in Höhe von einigen tausend Euro zu finanzieren.

Die nächste Frage lässt nicht lange auf sich warten: woher bekommt Blau-Weiss Buchholz weitere Trainerinnen oder Trainer, um die Neuankömmlinge adäquat zu trainieren und wie sollen die Coaches finanziert werden? Fragen über Fragen – da ist es mehr als sinnvoll, dass Susanne Tidecks an einem Nachmittag am Wochenende im Kreise der Familie zur Ruhe kommt.