Winsen. Verkehrsgesellschaft gibt Shuttle-Transport zum Amazon-Werk an derzeit arbeitslose Partner aus der Reise- und Touristik-Branche.
Ein Doppeldecker von Hanse-Stadtrundfahrt vor dem Winsener Bahnhof? Reisebusse, die durch das Luhdorfer Gewerbegebiet rollen? Manche Folgen der Corona-Krise wirken auf den ersten Blick kurios. Die Busse bringen Arbeiter von den Bahnhöfen Winsen und Ashausen zum Amazon-Verteilzentrum in Luhdorf oder fahren sie zurück zur Bahnstation. Sie bedienen als Partnerunternehmen der KVG Stade die öffentliche Buslinie 4705. Manches dieser Unternehmen würde ohne den besonderen Auftrag nicht überleben.
„Wir hatten mit zehn Unternehmen angefangen; sechs sind übrig geblieben“, sagt Ronald Hinz, der als Leiter der KVG-Betriebsstätte Hittfeld auch den Raum Winsen betreut. Seit Dezember 2018 übernimmt die KVG den Shuttledienst zum 2017 eröffneten Amazon-Logistikzentrum. Hinz: „Nach der Vereinbarung mit Amazon sollten bei jedem Schichtwechsel jeweils vier Gelenkbusse insgesamt rund 300 Personen vom und zum Werk transportieren. Doch dann kam Corona und die strengen Abstands- und Hygieneregeln. Wir durften nur noch 17 Personen im Bus transportieren. Deshalb brauchten wir schnell mehr Busse und Fahrer. Wir haben unsere bestehenden Partnerunternehmen angesprochen und neue hinzugenommen.“
Doppeldeckerbusse sind eigentlich in der Hamburger City unterwegs
So kamen die Doppeldeckerbusse der Hanse-Stadtrundfahrt nach Winsen. Normalerweise sind die Farbtupfer am Rathaus, den Landungsbrücken oder vor den Marco-Polo-Terrassen zu sehen. In der Hamburger City haben sie feste Routen, die sie im Verbund mit anderen Busunternehmen unabhängig von der Fahrgastzahl bedienen müssen. Diese Pflicht wurde in der Pandemie aufgehoben. Ohne einen Ausgleich zu schaffen. „Wir mussten sehen, wo wir bleiben“, sagt Geschäftsführerin Erzsebet Stadus.
Sie sei sehr froh gewesen, als Ronald Hinz sie ansprach und fragte, ob ihre beiden Busse in den Liniendienst für Amazon einscheren könnten, sagt Stadus. Ein weiteres Unternehmen der Stadtrundfahrten ist ebenfalls dabei, die Hamburg City Vision. Für Ronald Hinz ist die Zusammenarbeit eine Win-Win-Situation: „Wir hatten die Frage zu beantworten, wie wir die maximale Personenzahl transportieren können. Da waren Doppeldecker im Vorteil, weil dort auf jedem Deck 17 Personen mitfahren durften, also 34 Passagiere pro Fahrt.“
Maximale Passagierzahl stieg von 17 auf 27
Inzwischen sei die maximale Fahrgastzahl sukzessive auf 22,5, auf 25 und aktuell auf 27,5 Personen erhöht worden, sagt der Betriebsleiter. Wobei auch für ihn offen bleibt, wie sich halbe Personen befördern lassen. Das leicht verdichtete Fahren führte dazu, dass die Zahl der Amazon-Versorger auf sechs Unternehmen sank. Auch die Hanse-Stadtrundfahrten haben derzeit Pause; ihre vorerst letzten Fahrten absolvierten die beiden Doppeldecker am 9. März. Von den drei festen Busfahrern sei einer in Kurzarbeit, einer in Rente und einer entlassen worden, so die Chefin. „Ich hoffe, dass wir bald wieder einen Auftrag von der KVG bekommen“, sagt sie. „Und ich wäre natürlich besonders glücklich, wenn die Stadtrundfahrten wieder starten.“
Ein neuer KVG-Auftrag liegt bereits in der Luft: Eines der am Zubringer-Dienst beteiligten Busunternehmen wird nächste oder übernächste Woche nach Bremen wechseln, um dort das im Mai eröffnete Amazon-Logistikzentrum in Achim (Landkreis Verden) zu bedienen. Die frei werdenden Fahrten sind dann neu zu vergeben, kündigt Hinz an.
Auch das KVG-Unternehmen Becker Tours profitiert von den Amazon-Fahrten. Nicht nur in Winsen. Es ist auch für die Verteilzentren in Rendsburg-Eckernförde und Bad Oldesloe unterwegs. Letzteres wird vom Hamburger Hauptbahnhof und von Altona angesteuert.
Becker Tours ist ein mittelständisches Unternehmen mit fünf Reise- und 15 Linienbussen. Der Tostedter Betrieb arbeitet seit 40 Jahren mit der KVG zusammen, gleicht zum Beispiel Lastspitzen im Schulbusverkehr aus. Auch der fiel weitgehend weg. Dennoch sei das Unternehmen durch den recht hohen Anteil an Öffentlichem Personennahverkehr nicht ganz so stark in die Krise geraten, sagt Klaus Häcker, der seit gut 30 Jahren Becker-Busse fährt. Von den rund 50 Kollegen sei schätzungsweise ein knappes Fünftel in Kurzarbeit.
Chef hatte gerade einen 625.000 Euro teuren Bus angeschafft
„Ohne die KVG hätten wir nicht überlebt“, sagt dagegen Gaby Volkmann, die als eine von drei Stammfahrern für Hanse Bustouristik hinter dem Steuer eines hochmodernen Reisebusses sitzt. Den hatte ihr Chef gerade für 625.000 Euro angeschafft, als Covid-19 ausbrach. Nun sind monatlich 6000 Euro Tilgung fällig. Zusammen mit 17 Aushilfsfahrern fuhr Volkmann Urlauber nach Frankreich und Spanien, machte Tagesreisen, Stadtrundfahrten, Klassenfahrten und brachte Kreuzfahrtpassagiere zu ihren Schiffen. Zwei bis drei der vier Busse rollen nun für Amazon im Raum Winsen umher. Wie die Busse der anderen Unternehmen jeweils zu den Schichtwechseln von 6 bis 7.20 Uhr, 14 bis 15 Uhr und 22 bis 0.15 Uhr.
Amazon-Logistik:
- Rund 16.000 Mitarbeiter zählt das Logistiknetz von Amazon in Deutschland. In der Hochsaison, etwa um Weihnachten, kommen Aushilfskräfte hinzu. In Deutschland gibt es aktuell 16 Logistikzentren. Tendenz steigend. Das Jüngste wurde im Mai in Achim bei Bremen in Betrieb genommen.
- Das Winsener Logistikzentrum im Luhdorfer Gewerbegebiet startete im Sommer 2017 seinen Betrieb. Der weltweit größte Online-Händler hat hier 90 Millionen Euro investiert – ohne die Hallen, die für 20 Jahre angemietet sind. Gut 1700 Menschen sorgen dafür, dass täglich rund 100.000 Pakete rausgehen. Sie bewegen sich in einem Betrieb mit einer Flächengröße von neun Fußballfeldern.
- Winsen war der erste deutsche Standort, der Transportroboter einsetzte. Die Roboter fahren mit Schrittgeschwindigkeit und wiegen etwa 145 Kilogramm. Sie bringen die Produkte zu den Mitarbeitern vom Wareneingang und der Warenentnahme.