Buchholz. Urte Niedzwiedz kümmert sich seit 15 Jahren im Verein NISA um Schulassistenz für Kinder mit Handicap. Jetzt übernimmt Lars Finck.

Es war dieser Moment im Jahr 1987, als die Erzieher die große Schiebetür zwischen den Räumen schlossen und die Kinder voneinander trennten. Auf der einen Seite spielten die „Gesunden“, die Jungen und Mädchen ohne Behinderung. Auf der anderen wurden die Kinder betreut, die „anders“ waren. Jungen und Mädchen mit einem körperlichen oder geistigen Handicap.

Urte Niedzwiedz saß damals im Vorstand der Buchholzer Kindergarten Initiative „Buki e.V.“ und begleitete ein Modellprojekt des Landes Niedersachsen zum Aufbau einer Integrativen Kita. „Wir wollten die Schiebetüren öffnen, weil wir überzeugt waren, dass die Kinder voneinander lernen können“, erinnert sich Urte Niedzwiedz. „Aber genau das durften wir nicht.“

Eingliederungs- und Behindertenhilfe ist ihr Herzensthema

Von dem Moment an war der heute 67-Jährigen klar, dass dringend etwas geschehen muss in dieser Gesellschaft, die von Teilhabe und Barrierefreiheit, von Würde und Gleichbehandlung spricht, und doch so weit davon entfernt ist. „Die Erfahrung der unbedarften Begegnung von Kindern mit und ohne Behinderung hat für mich die Perspektive eröffnet, dass so etwas auch über die Generationen hinweg möglich sein muss“, sagt sie.

Seitdem ist das Thema Eingliederungs- und Behindertenhilfe ihr Herzensthema. Nach Stationen im Buchholzer Jugendzentrum, in der sozialpädagogischen Familienhilfe von DRK und AWO und bei der Lebenshilfe im Landkreis Harburg, landete die studierte Sozialpädagogin 2007 als 400-Euro-Kraft bei dem im gleichen Jahr gegründeten Verein NISA e.V., dem Verein für Inklusion in Sozialarbeit und Assistenz. Und blieb als pädagogische Leiterin. Jetzt geht sie in den Ruhestand.

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„Urte Niedzwiedz hat die Entwicklung von NISA e.V. von Anfang an maßgeblich gestaltet und mit ihrer einfühlsamen Art viel erreichen können“, sagt Vorstandsmitglied Bernd Beiersdorf. Beiersdorf, ehemaliger Vorstand der Lebenshilfe Landkreis Harburg e.V., gehört zu den Gründungsmitgliedern von NISA e.V., war einer von elf Engagierten aus verschiedenen Bereichen – Kindergarten, Schule, Ambulante Behindertenhilfe sowie Betroffene – die 2007 ein gemeinsames Ziel einte: das Leistungsangebot für Menschen mit Behinderung im Landkreis individuell, bedarfsorientiert, passgenau und vor allem „inklusiv“ zu erweitern.

„Menschen mit Handicap haben einen individuellen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe – und das in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, also Schule, Freizeit, Sport, Wohnen und Arbeit“, so Beiersdorf. „In diesem Sinne arbeiten wir bis heute intensiv daran, das entsprechende Leistungsangebot im Landkreis Harburg individuell, bedarfsorientiert und inklusiv zu erweitern.“

Heute 74 Mitarbeiter, die bis zu 60.000 Stunden im Jahr leisten

Urte Niedzwiedz erinnert sich an die Anfänge. „Als wir gestartet sind, ging es dem Verein zunächst darum, Kinder und Jugendliche mit individuellem Hilfebedarf auf ihrem schulischen Weg zu unterstützen. Wir hatten zu Anfang gerade mal sieben Begleiter und Betreuer, die 1280 Stunden im Einsatz waren.“ Heute sind es 74 Mitarbeiter, die bis zu 60.000 Stunden im Jahr leisten. „Das klingt nach viel, ist aber noch lange nicht genug“, sagt Urte Niedzwiedz. Denn noch immer gebe es eine Warteliste für viele Schülerinnen und Schüler im Landkreis Harburg, die auf eine Assistenz zur Bewältigung des Schulalltags warten. Hinzu komme der Bedarf für die Unterstützung in den Bereichen berufliche Orientierung, Qualifikation und Begleitung, Freizeit und Altenbetreuung. „Auch hier übersteigt die Nachfrage das Angebot“, sagt Niedzwiedz. „Der Bedarf an Kräften ist noch lange nicht gedeckt.“ Der Grund dafür liege auf der Hand: „Die Arbeit wird zu schlecht bezahlt.“ Der Stundensatz liege bei 12,50 bis 14 Euro – und dass für eine Aufgabe, die sehr anspruchsvoll und herausfordernd sei.

„Die Aufgabe der Schulbegleitung ist eine maximale Herausforderung“, bestätigt Martin Ihlius, Leiter der Förderschule An Boerns Soll und, ebenso wie Niedzwiedz, NISA-Mitglied der ersten Stunde. Den Schulassistenten werde nicht nur ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Empathie und Flexibilität abverlangt. „Sie müssen in der Lage sein, die Rollen zu wechseln, zwischen Schulregeln und den Interessen des Schülers zu vermitteln und über ein gewisses Standing verfügen“, sagt Ihlius. Das alles könne man nur erreichen, wenn man die Mitarbeiter gut fortbilde. Genau dafür hat sich Urte Niedzwiedz als pädagogische Leiterin in all den Jahren intensiv eingesetzt, hat an den Ausgaben auf Führungsebene gespart, um mehr in ihre Mitarbeiter investieren zu können.

Nachfolger Lars Finck löst sie offiziell am 15. Juni ab

Ihr Nachfolger, Lars Finck, beschreibt die Aufgabe seiner Vorgängerin, die er am 15. Juni offiziell ablösen wird, als „ehrliche Sozialarbeit“. „Ich werde hier die eierlegende Wollmilchsau sein“, sagt er, „mich mit allen Themen beschäftigen — von der betrieblichen Altersvorsorge bis hin zur Gestaltung einer neuen Homepage.“ Sein Ziel sei es, sowohl die Arbeitsbedingungen für Assistenzen weiterzuentwickeln als auch die Dienstleistung auszubauen. Dabei geht es dem 37-Jährigen, der soziale Arbeit studiert und zuletzt bei der Lebenshilfe Hamburg tätig gewesen ist, zum einen um eine gute schulische Begleitung, die nicht auf Noten abzielt, sondern den Menschen bestmöglich auf das Leben vorbereitet. Zum anderen will er die Unterstützungsmöglichkeiten an den Übergängen von Schule und Beruf ausbauen. Und: Er möchte in Kooperation mit der Jugendhilfe inklusive Jugendbegleiter qualifizieren, die junge Menschen mit Behinderung in ihrer Freizeit begleiten. „Ich wünsche mir, dass junge Leute mit Handicap wie alle anderen auch, feiern gehen und die Nacht durchtanzen können. Auch dafür brauchen wir Assistenzen.“

Urte Niedzwiedz wird die Entwicklung in ihrer Heimat künftig aus der Ferne betrachten, plant mit Rucksack auf Weltreise zu gehen und in anderen Ländern bei Projekten mitzuarbeiten. Sie weiß, dass dort vieles für Menschen mit Handicap möglich gemacht wird, was hierzulande undenkbar ist. „Ich erinnere mich an eine Reise, die wir mit Menschen mit Behinderung nach Mallorca gemacht haben“, sagt sie. „Wir wollten eine Fahrt mit dem Kutter machen, aber es gab nur drei Bretter vom Ufer zum Schiff – und wir hatten einen Rollstuhlfahrer dabei. Die Besatzung fragte ihn, ob sie ihn aufs Schiff tragen dürften. Und so fuhr er mit. So etwas wäre in Deutschland nicht vorstellbar. Denn bei uns geht es meist nur um einzuhaltende Strukturen, und viel zu wenig um die menschliche Ebene.“

Zum Thema Assistenz:

  • Assistenz ist eine personenbezogene Dienstleistung für Menschen mit Behinderung. Sie kann – orientiert am individuellen Unterstützungsbedarf – in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen in Anspruch genommen werden.
  • Im Schulalltag ermöglicht die Schulassistenz Kindern und Jugendlichen mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung den Besuch einer für sie am besten geeigneten Schulform.
  • Persönliche Assistenz umfasst alle Bereiche des alltäglichen Lebens. Die Assistenznehmer bestimmen selbst, wer für sie was, wo und wann an Tätigkeit verrichtet. Sie kann jederzeit zuhause, unterwegs und im Urlaub in Anspruch genommen werden.
  • Auch für die Freizeit, den Arbeitsalltag und beim Wohnen gibt es Assistenzen.
  • NISA e.V. berät zu allen Formen von Assistenzen und unterstützt bei der Vermittlung. Zudem bietet der Verein Eltern von Kindern aus dem Autismus-Spektrum die Möglichkeit, sich in einer Selbsthilfegruppe auszutauschen. Infos: www.nisaev.de