Sonja Fröhlich
Sonntag ist Welttag der Suizidprävention. Es ist ein Tag, um zum Beispiel die Geschichte von Jonas S. aus Dortmund zu erzählen. Jonas war 17 Jahre alt, als er am Fenster seines Zimmers saß, im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses, und er dachte: „Wenn ich jetzt springe, bin ich sofort alle meine Probleme los.“ Heute sagt Jonas, er habe damals eine Art Todessehnsucht gespürt. Er habe öfter an dem Fenster gesessen und sich gefragt, wie es wäre, wenn er sich fallen ließe. Einmal wäre es fast so weit gewesen. Acht Jahre ist das her. Heute ist Jonas S. froh, es nicht getan zu haben.
Für die Akteure der Suizidprävention sind „Erfolgsgeschichten“ wie die von Jonas wichtig. „Wir brauchen dringend mehr Bewusstsein für das Thema“, sagt Ute Lewitzka, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Dresden und stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). „Man hat das Gefühl, Suizid wird als Problem von der Gesellschaft nicht wahrgenommen. Sogar Menschen, die in sozialen und medizinischen Bereichen arbeiten, wissen vielfach gar nicht um die Dimension des Problems – und das trotz grenzenloser Informationsflut, die wir haben.“
Warnungen der Experten verhallen oft ungehört
Allein in Deutschland sterben jedes Jahr ungefähr 10.000 Menschen durch Suizid – das sind mehr als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, illegale Drogen und Aids zusammen. Konkret bedeutet das: Alle 53 Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben. Etwa 150.000 Suizidversuche werden jedes Jahr in Deutschland verübt, obwohl es hierzu keine verlässlichen Studien gibt. Dabei begehen in keinem anderen Lebensabschnitt so viele Menschen Suizidversuche wie vor dem 25. Lebensjahr. Nach Unfällen sind Suizide die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen. Jeden zweiten Tag stirbt in Deutschland ein Jugendlicher durch seine eigene Hand.
Doch wo beim Thema Verkehr überall Schilder vor hohem Tempo, Unaufmerksamkeit und Alkoholkonsum am Steuer warnen, wo jede negative Bilanz eine Flut an Informationen und Präventionsprojekten nach sich zieht, verhallen die Warnungen der Suizidexperten oft ungehört. „Das ist eben kein Salonthema oder ein Wahlkampfthema. Über Suizid zu sprechen ist leider oft immer noch ein Tabu. Dabei brauchen gerade die Betroffenen vor allem eines: Gespräche darüber“, sagt Lewitzka.
Bei Suizid geht es nicht um ein Randgruppenphänomen. Suizid taucht in allen sozialen Schichten und Berufsgruppen auf. Selbsttötungen werden von Arbeitern ebenso begangen wie von Akademikern und Hollywoodstars. Die Statistiken sagen, dass sich dreimal so viele Männer wie Frauen das Leben nehmen und die Suizidrate ab dem 60. Lebensjahr steil ansteigt, was auch mit einem höheren Krankheitsaufkommen zu tun hat. Die Statistiken sagen auch, dass ausgerechnet Bayern und Sachsen über Jahre die höchsten Selbstmordraten in Deutschland verzeichneten, was Experten nicht so recht erklären können. Und sie sagen, dass mehr als die Hälfte der Suizidenten hierzulande durch Erhängen, Ersticken oder Strangulieren stirbt. Doch die Statistiken sagen nicht, welche Ursachen hinter den Selbsttötungen stecken. „Das ist ein sehr komplexes Geschehen“, sagt Fachärztin Lewitzka.
Es gebe zwar Risikofaktoren wie psychische Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen oder andere schwerwiegende Lebensereignisse wie sexueller Missbrauch, die zu großer seelischer Not führen könnten. „Es gibt aber nicht eine alleinige Ursache. Jeder Suizidfall muss für jeden Menschen individuell mit seiner eigenen Lebensgeschichte und Ereignissen betrachtet werden“, so Lewitzka. Auch der Einfluss der Gesellschaft spiele eine Rolle.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts sah der Soziologe und Ethnologe David Émile Durkheim den Selbstmord nicht als individuelles, sondern als soziales Phänomen. Durkheims zentrale These lautete: „Je besser die Menschen in sozialen Gruppen integriert sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie Selbstmord begehen.“ Oder umgekehrt: Je geringer der Grad der sozialen Integration, desto höher die Suizidrate. Heutige Studien haben gezeigt, dass gerade Mobbing das Suizidrisiko erhöht. Besonders Cybermobbing ist zunehmend ein Problem unter Kindern und Jugendlichen, legt eine Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing nah. Die Dramatik zeige sich daran, dass jeder fünfte befragte Schüler im Zusammenhang mit dem Mobbing aus dem Netz schon einmal an Suizid gedacht habe, schreiben die Autoren.
Bei Jugendlichen, so Expertin Lewitzka, handelt es sich häufig um spezifische Probleme wie Entwicklungsschübe und Veränderungen der Lebenssituationen sowie Überfor-derung, die zur seelischen Not führen können. Auch bei dem damals 17-jährigen Jonas kam einiges zusammen: Streit mit den Eltern, Probleme in der Schule, Freunde, die sich von ihm abwendeten, es gab niemanden mehr, dem er seine Gefühle anvertrauen konnte. „Ich habe auch gedacht, dass mich sowieso niemand versteht.“
Befürchtet wird der sogenannte Werther-Effekt
Formate wie die amerikanische Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ – in 13 Folgen wird der Suizid einer Jugendlichen thematisiert – werden von Experten aus Psychologie und Suizidprävention als weitere Gefahr gesehen. Tatsächlich soll es auch in Deutschland erste Suizidfälle gegeben haben, die mit dem Konsum der Serie in Verbindung stehen. Die Experten befürchten dabei den sogenannten Werther-Effekt: Gemeint ist der Zusammenhang zwischen einer ausführlichen, emotionalen Berichterstattung über Suizide in den Medien und einem Anstieg der Taten.
Bestes Beispiel ist der Fall Robert Enke. Als sich der Bundesliga-Torwart im November 2009 an einem Bahnübergang das Leben nahm, stieg die Zahl der Schienensuizide sprunghaft. Im Dezember 2009 begingen doppelt so viele Männer zwischen 20 und 25 Jahre Suizid wie im Vorjahr. Seither zählt die Deutsche Bahn jährlich im Schnitt 813 „Personenschäden“ – und damit mehr als in den Jahren davor. „Natürlich lässt sich so ein Fall nicht verschweigen, aber es sollte unbedingt auf eine überproportionale und detaillierte Darstellung verzichtet werden“, betont Lewitzka. Um Bewusstsein für das Suizid-Phänomen zu schaffen, sollte stattdessen mehr über positive Wendungen erzählt werden. Nehmen wir also Jonas S., der vor acht Jahren keinen Ausweg mehr wusste. „In meiner Not habe ich irgendwann die Nummer der Telefonseelsorge gewählt“, sagt er im Rückblick. „Da konnte ich alles loswerden – und dann war es nicht mehr so schlimm.“ Möglicherweise, sagt er, habe ihm die Nummer das Leben gerettet.