Beim HSV hat die Führung in der Vergangenheit viel falsch gemacht – aber daraus die Lehren gezogen. Davon profitiert nun Cléber Reis
Ein Fehleinkauf! Wie oft haben HSV-Fans, ausgewiesene Experten und natürlich auch die Medien in der Vergangenheit so geurteilt, weil ein neu verpflichteter Profi nicht auf Anhieb die von ihm erhoffte und auch erwartete Leistung gebracht hat? Es gibt unzählige Beispiele. Eines von ihnen ist ganz aktuell: Cléber Reis. Der Brasilianer wurde in dieser Saison vom HSV unter Vertrag genommen. Er kam von Corinthians São Paulo, die Ablösesumme betrug drei Millionen Euro – und kaum jemand in Deutschland kannte den Abwehrspieler. Dieser Transfer gab zudem ein Rätsel auf, weil HSV-Innenverteidiger Jonathan Tah kurz zuvor an Zweitliga-Club Fortuna Düsseldorf ausgeliehen wurde. Was hat Cléber, was Tah nicht hat?
Die Zweifel verstärkten sich, weil der Start des Brasilianers in Hamburg äußerst holprig verlief. Er erhielt erst am vierten Spieltag die Chance, sich in der Bundesliga zu zeigen – der HSV verlor in Hannover 0:2. Am sechsten Spieltag durfte er gegen Frankfurt erneut ran, verschuldete ein Gegentor, der HSV verlor 1:2 – Cléber Reis war erst einmal raus. Das böse Wort „Fehleinkauf“ zog die Runde. Erst als sich Heiko Westermann am 29. November verletzte, schlug die Stunde des 24-jährigen Brasilianers. Plötzlich überzeugte der Innenverteidiger mit Top-Leistungen.
Fehleinkauf? Davon will in Hamburg zurzeit niemand mehr etwas wissen. Obwohl der Innenverteidiger von einigen „Experten“ immer noch mit einer gewissen Portion Skepsis betrachtet wird. Im Trainingslager in Dubai aber avanciert Cléber Reis bislang zum „Überflieger“, auch wenn er gestern im Testspiel gegen Frankfurt wegen kleinerer muskulärer Probleme geschont wurde – eine Vorsichtsmaßnahme. Ansonsten aber überzeugt er in den Einheiten mit Bestleistungen und erhält Lob von allen Seiten.
So kann es gehen. Und genau das sollte allen, den Fans, den Experten, den Führungsherren und Trainern, natürlich auch den Medien, zu denken geben. Und zugleich sollte dieser „Fall“ zum Nachdenken anregen: Erstens wird oftmals vorschnell geurteilt, zweitens sollte im Verein jede Instanz mit dem größten Einsatz versuchen, den zuvor mit großen Hoffnungen verpflichteten Spieler die denkbar größte Unterstützung zukommen zu lassen. Zu oft nämlich ist genau das in der Vergangenheit beim HSV nicht geschehen.
Als Paradebeispiel dafür könnte Marcus Berg gelten. Für den Schweden überwies der Club im Juli 2009 eine zweistellige Millionensumme an den FC Groningen, und die Niederländer feiern diesen Tag immer noch enthusiastisch. Berg aber schoss in 54 Bundesliga-Einsätzen für den HSV nur fünf Tore, ging als Fehleinkauf in die Clubgeschichte ein und wurde 2013 an Panathinaikos Athen verschenkt – zum Nulltarif. Und plötzlich trifft er wieder: 36 Erstliga-Spiele, 20 Treffer. Eine erstaunliche Quote. Wie zuvor in den Niederlanden, denn für Groningen schoss der heute 28-jährige Berg in 56 Spielen 32 Tore. Möglich, dass die Bundesliga eine Nummer zu groß für ihn war. Eventuell aber ist der HSV auch nicht genügend auf den sensiblen Schweden zugegangen. Und eben nicht nur auf Berg, sondern auf den einen oder anderen „Fehleinkauf“ mehr.
Individuelle Betreuung ist das Motto, das im eiskalten Profi-Sport oftmals belächelt oder verkannt wird, in den meisten Fällen auch gar nicht erst zum Einsatz kommt. Es soll aber selbst unter Fußballprofis Menschen geben, die allein in einem fremden Land und in einer neuen Stadt ein Quäntchen mehr an Zuspruch benötigen, um ihre Höchstleistungen abrufen zu können. Das eine oder andere Vieraugengespräch könnte in solchen Fällen schon kleine Wunder bewirken.
Wie bei Cléber Reis. In seinem Fall hat sich der „neue“ HSV bewährt. Der Brasilianer erhielt von Beginn an eine Rundumbetreuung, ihm steht ein Dolmetscher zur Seite, der ihm auch die deutsche Sprache näherbringt. Und da der Innenverteidiger auch fußballerisch geduldig geschult wurde, nimmt nun niemand mehr dieses Wort „Fehleinkauf“ in den Mund. Es geht doch!
Die HSV-Kolumne „Matz ab“ finden Sie täglich im Internet unter www.abendblatt.de/matz-ab