Zurzeit lebt Ronald Schill im „Promi Big Brother“-Container. Vor 13 Jahren wählten 19,4 Prozent der Hamburger seine Partei bei der Bürgerschaftswahl – wie konnte das passieren?
Geschichte sollte man manchmal besser nicht von ihrem Ende her erzählen. Sonst hätten 165.421 Hamburger sich kaum so irren können wie an jenem September-Sonntag vor rund 13 Jahren: Damals bei der Bürgerschaftswahl hievten die Wähler einen Mann in den Senat, der nur wenige Jahre später seine Stadt, vor allem aber sich selbst, gründlich blamieren sollte. Jetzt ist Ronald Barnabas Schill, vor dessen Law-and-Order-Politik einst die etablierte Politik zitterte, endgültig zum Clown im Unterschichtenfernsehen mutiert. Und dass auch noch zeitgleich seine Autobiografie „Der Provokateur“ als Taschenbuch erschienen ist (Soundtrack, Berlin, 9,95 Euro), lässt vor allem einen Schluss zu: Finanziell dürfte es dem frühpensionierten Richter und unehrenhaft entlassenen Ex-Innensenator, der schon seit einigen Jahren ein eigenes Haus in einer Favela in Rio de Janeiro bewohnt, nicht allzu gut gehen.
Wer vom „Provokateur“ Schill eine schonungslose Abrechnung oder zumindest ein klein wenig politische Analyse, ja gar profunde Selbstkritik erwartet hat, den dürfte seine Autobiografie jedoch enttäuscht und vermutlich auch leicht verwirrt zurücklassen. Auf insgesamt 208 Seiten schildert der mittlerweile 55-Jährige in insgesamt 97 kleinen Häppchen seinen selbst verschuldeten Aufstieg nebst fremdverschuldeten Fall. Es ist ein Parforceritt durch die vermeintlich seriöse Welt der Justiz und der Politik, es ist aber auch ein selbstzerstörerischer Amoklauf eines testosterongesteuerten, machtgierigen Sexsüchtigen. Schills „politisches Vermächtnis“ steht bereits im Vorwort: „(...) geblieben sind letztlich nur die mittlerweile in fast ganz Deutschland eingeführten blauen Polizeiuniformen. Ohne meinen für Hamburg angeordneten Alleingang wäre dies nicht möglich gewesen.“ Und er schreibt weiter: „Dieselbe Eigenschaft, die mir Macht einbrachte, wurde schließlich mein Verhängnis: die Maßlosigkeit. Es war meine Gier nach dem weiblichen Geschlecht, die meinen zahlreichen Feinden in Medien und Politik zu viel Angriffsfläche bot. Mein Schwanz brach mir das Genick.“
Damit könnte man das Thema Schill im Prinzip ad acta legen. Schließlich hat das einstige Enfant terrible der Hamburger Landespolitik bloß das getan, was er aus dem Effeff beherrscht: sich absichtlich zum Hanswurst zu machen, und es dabei trotzdem so aussehen zu lassen, als tanzte die Pressemeute nach seiner Pfeife. So ist der Titel „Provokateur“ wohl tatsächlich das Beste an diesem Buch. Schill ist immer ein Spieler gewesen, der ohne Rücksicht auf Verluste agierte. Er liebe die Provokation, schreibt er, „und dabei einen Schritt zu weit zu gehen, Steine ins Wasser zu werfen und dabei zuzuschauen, wie die Wellen sich ausbreiten“.
Doch die Aneinanderreihung schlüpfriger Sexbeichten, politischer Selbstbeweihräucherung und bemerkenswerter Stilblüten („Sie kam viermal zum Orgasmus und ihre Schreie tosten durch den Wald. Ein Wahnsinn! Sie würde mich süchtig machen. Oder war ich es schon? Jedenfalls war ich mal wieder an der Scheide meines Lebens.“) gipfeln am Ende in nur einer Frage: Wie konnte Ronald Barnabas Schill dieser Stadt eigentlich passieren?
Um einen der erstaunlichsten Erfolge der an Irrtümern reichen Hamburger Wahlgeschichte zu erklären, sollte man die aktuelle Unterschichten-TV-Show mit ihren Nacktszenen, Schills angebliche Kokainsucht sowie seine Leidenschaft für Gruppensex ausblenden und den Blick zurück auf das politische Hamburg der Jahrtausendwende richten. Damals, 1997, wurde der eher unbekannte Amtsrichter Ronald Barnabas Schill mit einem Schlag zum Liebling des Boulevards. Unter den einschlägig vorbestraften Kriminellen hatte er sich zwar schon den Ruf als harter Hund erworben, doch die 30 Monate Haft, zu denen er eine Frau verurteilte, die als Wiederholungstäterin in einer Nacht zahlreiche parkende Autos zerkratzt hatte, verwandelten Schill in den „Richter Gnadenlos“. So titelte damals die „Hamburger Morgenpost“ – und sie traf damit genau den Nerv der Bevölkerung. Damals hatten viele Hamburger das Gefühl, die Stadt stecke im Würgegriff der Kriminalität; sie sei gar die deutsche „Hauptstadt des Verbrechens“, wobei eine demotivierte Polizei, eine lasche Justiz und eine desinteressierte Politik alles noch verschlimmerten.
Spektakuläre Verbrechen beherrschten die Schlagzeilen. Die Kriminalität war über Jahre hinweg gewachsen, während das persönliche Sicherheitsempfinden geschwunden war. Einige Namen tauchten immer wieder in den Berichten auf, die Fälle wurden zusehends krasser. Das „Crash-Kind“ Dennis etwa zerlegte ein gestohlenes Auto nach dem anderem. Ein Toter, Hunderte Fahrzeugdiebstähle und ein Millionenschaden gingen auf sein Konto. Doch Dennis bekam Erlebnispädagogik-Reisen ins In- und Ausland statt Knast verordnet. Dennis selber sagte später: „Das war oft regelrecht Verleitung zum Diebstahl: ,Wenn du noch mal ein Auto klaust, kommst du nach Neuseeland‘, hat man zu mir gesagt.“ Erst in Polen wurde der notorische Autoknacker schließlich zu sechs Jahren Haft verurteilt. 1998 ermordeten dann zwei polizeibekannte Täter den beliebten Tonndorfer Lebensmittelhändler Willi Dabelstein wegen ein paar Mark. Obwohl die jugendlichen „Intensivtäter“ schon etliche Straftaten begangen hatten, war der Staat bis dahin stets milde mit ihnen umgegangen. Darüber hinaus hatte sich in Hamburg eine gigantische Drogenszene etabliert: Wer mit der Bahn anreiste, landete am Hauptbahnhof erst einmal im Untergrund, dies jedoch oberirdisch. Der Hachmann-Platz war verwahrlost, Junkies campierten hinter dem repräsentativen Bau der Jahrhundertwende, Urinschwaden waberten durch die Luft, der offene Drogenhandel florierte, die Polizei schaute weg. Selbst SPD-Senatoren rieten damals ihren Verwandten oder Freunden, doch lieber am Dammtorbahnhof auszusteigen. Als dann bekannt wurde, dass auch vier der Terroristen des 11. September jahrelang ausgerechnet in Hamburg gelebt hatten, war das Desaster für den regierenden Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) perfekt. Der Ruf nach einem härteren Durchgreifen wurde unüberhörbar – angesichts der zahlreichen, erschreckenden Bilder, die sich rund um den Hauptbahnhof oder im Schanzenpark Kamerateams und Fotografen boten.
Das war die Stunde Schills. „Richter Gnadenlos“ gab dem weit verbreiteten Unbehagen über die Sicherheitslage Stimme und Gesicht. Dabei wirkte er so ganz anders als die unappetitliche Mischpoke von rechtsradikalen Politikern, die sonst mit der Angst vor Kriminalität und Fremden punkten wollten. Ronald Barnabas Schill war rhetorisch geschickt, groß gewachsen und sah blendend aus. Er verkörperte nicht die ewig-gestrigen, dumpfen Parolen anderer Populisten, sondern präsentierte sich in der Öffentlichkeit als intelligente wie charmante Mischung aus Law-and-Order-Mann und Bonvivant. Mit seinem kommunistischen Großvater, den die Nazis in Neuengamme eingesperrt hatten, grenzte er sich demonstrativ von rechts ab, auch aus taktischen Gründen wurde er Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
Und die Hamburger Gesellschaft ging ihm auf den Leim. Auch wenn sich heute kaum einer erinnern kann oder will: Damals ließen sich viele prominente Hanseaten nur allzu gerne gemeinsam mit „Richter Gnadenlos“ ablichten, wenn man sich auf rauschenden Partys traf – bevorzugt in dem inzwischen geschlossenen Nachtclub Wollenberg.
Vor allem aber wählten sie ihn: Mit einfachen, verständlichen Botschaften („Härte zeigen“) sowie großspurigen Versprechen („Ich halbiere die Kriminalität binnen 100 Tagen“) war er ein Staubsauger des Protests. Binnen 14 Monaten gelang es ihm, quasi im Alleingang, die Stimmen der Nichtwähler, der Rechten, enttäuschter Sozialdemokraten, verängstigter Besserverdiener und politischer Hasardeure zu sammeln. Auch wenn ihn heute kein Hamburger je gewählt haben will, sprechen die Zahlen eine andere Sprache: In Wilhelmsburg errang die Schill Partei fast 35 Prozent, in Blankenese 18 und in Eppendorf immer noch rund zehn Prozent der Stimmen.
Geradezu berauscht feierten seine Anhänger auf einer bizarren Wahlparty auf dem Elbdampfer „Louisiana Star“ die 19,4 Prozent und skandierten „Ronald, Ronald“, als sei der damals 42-Jährige der Star einer Boyband. Und weil Rechtsausleger mit bürgerlichem Lebenslauf und hoher Intelligenz in Deutschland bis dahin eine Rarität waren, hallte das Medienecho enorm nach. Die Presse – von „Welt“ und „Zeit“ über das Hamburger Abendblatt bis zur „Bild“ ging arg freundlich mit dem Aufsteiger um, der sich anschickte, die Republik auf dem Kopf zu stellen. Widerstand – etwa den Aufschrei von 60 Künstlern, aber auch „von linken und militanten Störern“ – ließ er nicht nur lässig an sich abprallen, er provozierte ihn sogar, um die Demonstranten von seinen kampferprobten Bodyguards aus den Sälen werfen zu lassen und so seine Tatkraft zu unterstreichen. Mit dem Wahlverlierer, der CDU, die auf 26,2 Prozent abgerutscht war, und der FDP bildete Schill nach der Wahl rasch ein Bündnis. Berührungsängste mit dem Rechtspopulisten Schill kannten damals weder die Union noch die FDP. In atemberaubender Geschwindigkeit machte Ole von Beust Nägel mit Köpfen. Schon Mitte Oktober stand die Koalition. „Schill war ein Mittel zum Zweck“, gestand Beust später ein.
Doch im Amt zeigte sich, dass der begnadete Rhetoriker an anderen Tagen zum Quartalsirren mutierte. Er kam spät ins Büro, ging dafür früh und hielt im Nachtclub am Alsterufer champagnerselige „Bürgersprechstunden“ ab. Im Bundestag blamierte er sich mit einer unsäglichen Rede zum Oder-Hochwasser; dann wollte er russisches Narkosegas für den Kampf gegen Terroristen anschaffen. Als er im August 2003 versuchte, Ole von Beust wegen dessen Homosexualität und einer angeblichen Affäre mit Justizsenator Roger Kusch zu erpressen, zog der Erste Bürgermeister die Reißleine.
So schnell, wie es für Schill bergauf ging, ging es nun bergab. Seiner Wahlniederlage 2004 folgten die mehr oder minder unfreiwilligen Rückzüge von allen Posten und Positionen und schließlich eine lange Flucht nach Rio, wo er von seiner gekürzten Richterpension mehr schlecht als recht lebte. Peinlich ist das nicht nur für ihn, sondern auch für eine Stadt, die ihn fast zwei Jahre lang als Präses der Innenbehörde und Zweiten Bürgermeister gewähren ließ. Leider erschließt sich Geschichte oft erst von ihrem Schluss.