Hansestadt steht vor drei wichtigen Wahlen. Noch im Januar beginnt eine große Aktion, die Lust auf Politik machen soll. Bürgermeister Olaf Scholz: „Die Zeit ist reif dafür“
Das Abendblatt will Partei ergreifen – für die Parteien. „Wir wollen im Hamburger Abendblatt Menschen animieren, sich wieder mehr in Parteien zu engagieren“, sagte Chefredakteur Lars Haider in seiner Rede zum Neujahrsempfang. Noch im Januar werde die Initiative „Partei ergreifen“ gestartet, die sich über das ganze Jahr hinziehe.
Angesichts der Europa- und Bezirksversammlungswahlen Ende Mai und des Wahlkampfs zur Bürgerschaftswahl Anfang 2015 gebe es „kein besseres Jahr, um den Hamburgern Lust auf Politik zu machen“. Haider warnte: „Es ist auch höchste Zeit dafür, sonst laufen wir Gefahr, dass künftig alle großen Fragen unserer Stadt per Volksentscheid geklärt werden.“
Mehr Bürgerengagement ist dringend erforderlich, fanden viele Gäste
Einer, der den Appell des Chefredakteurs aus der ersten Reihe mitverfolgte, war Bürgermeister Olaf Scholz (SPD). „Ich finde die Initiative gut. Wir müssen eine Trendwende hinbekommen. Die Zeit ist reif dafür“, sagte der Sozialdemokrat. Die Parteien müssten bereit sein, Mitglieder auch auf neuen Wegen zu finden. Scholz, der auch SPD-Landesvorsitzender ist, wies auf das seiner Ansicht nach erfolgreiche Experiment des virtuellen Ortsvereins hin, deren Mitglieder sich im Netz treffen.
CDU-Oppositionschef Dietrich Wersich sagte: „Ich finde es gut, dass Lars Haider sich für die Rolle der Parteien in der Demokratie starkmacht. Die Wahrheit ist: Unsere Demokratie würde ohne Parteien und Menschen, die bereit sind, sich in ihnen zu engagieren, nicht funktionieren.“
Der Vattenfall-Generalbevollmächtigte Pieter Wasmuth hält den Vorstoß für „sehr gut und richtig“. Die repräsentative Demokratie müsse wieder mit mehr Leben gefüllt werden. „Volksentscheide sind nur einzelfallbezogen. Langfristige Themen können dagegen nur über Parteien bewegt werden“, sagte Wasmuth, der mit dem erfolgreichen Volksentscheid zum Rückkauf der Energienetze eigene Erfahrungen mit der direkten Demokratie gemacht hat. Nach Wasmuths Ansicht haben Parteien derzeit jedoch zu fest gefügte Hierarchien, und es gebe zu wenig Austausch zwischen Politik und Bereichen wie etwa Wirtschaft oder Kultur. „Querexpertise“ sei gefragt, wie sie Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos) als früherer Manager und Handelskammer-Präses beispielhaft in die Politik einbringe.
Mehr Bürgerengagement ist dringend erforderlich, fanden viele Gäste, aber es muss nicht zwingend in einer Partei sein. Bischöfin Kirsten Fehrs sagte: „Es ist gut, wenn sich Menschen überhaupt gemeinwohlorientiert engagieren, egal ob in einer Partei, in einer anderen gesellschaftlichen Gruppe oder in einer Volksinitiative.“ Denn sie beobachte bei vielen Menschen, dass sie Verantwortung lieber an Dritte delegieren, anstatt sich selbst vertieft mit Themen zu beschäftigen und dann auch Verantwortung zu übernehmen.
„Wir leben in einer Zeit hoher gesellschaftspolitischer Relevanz“, sagte Joachim Lux, Intendant des Thalia Theaters. Die sozialen Verteilungskämpfe müssten endlich ein Ende finden, und weltpolitische Fragen wie die nach der Rolle der „Festung Europa“ seien zu klären. „Daher ist gesellschaftspolitisches Engagement heute stärker gefragt als vor zehn Jahren. Ob die Menschen sich dann in Parteien engagieren oder woanders, muss jeder selbst entscheiden“, sagte Lux.
Kultwerk-West-Gründerin Sigrid Berenberg sieht bei Volksinitiativen zunehmend die Gefahr, dass es vor allem um Lobbyinteressen geht. „Das widerspricht der repräsentativen Demokratie“, sagt Berenberg, fügt aber hinzu: „Viele wollen aber nicht in eine Partei eintreten. Ich auch nicht.“ Die Kulturmanagerin hat die Idee, dass Menschen Parteien für einzelne konkrete Positionen unterstützen könnten.
„Wir müssen deutlich machen, dass auch einfache Parteimitglieder mitbestimmen können“, sagte der Altonaer SPD-Vorsitzende Mathias Petersen. Das würde die Attraktivität der Parteien erheblich steigern. „Die Mitgliederabstimmung über den Koalitionsvertrag hat der SPD allein 3000 Neumitglieder gebracht.“
Ex-„Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff war skeptisch: „Es ist eine schöne Vorstellung, dass sich mehr Menschen in Parteien engagieren, aber schwierig umzusetzen.“ Viele Menschen hätten einfach nicht die Zeit, andere nicht die Kompetenz. Berghoff: „Es gibt schon zu viele unfähige Politiker. Bitte nicht noch mehr davon.“
NDR-Moderator Alexander Bommes sagte dagegen: „Ich bin von Kindheit an politisch geprägt und kann mir auch vorstellen, mal als Quereinsteiger in die Politik zu gehen.“ Und in dem Fall würde er sich auch einer Partei anschließen. „Den Aufruf finde ich sehr gut, bin mal gespannt, ob die Leute den Hintern hochbekommen.“ Carl Jarchow, FDP-Bürgerschaftsabgeordneter und HSV-Vorstandschef, unterstützt den Aufruf. Parteien könnten attraktiver werden, wenn die Durchlässigkeit hin zu Positionen, in denen man aktiv gestalten kann, größer werde.
„Eine gut ausgebaute direkte Demokratie braucht reine starke repräsentative Demokratie. Und das geht nicht ohne Parteien“, sagte SPD-Fraktionschef Andreas Dressel. Die Möglichkeit der Mitarbeit in Parteien habe sich aus seiner Sicht bereits sehr verbessert. „Man muss nicht mehr jahrelang Plakate kleben, um Funktionen in Parteien zu übernehmen.“ Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan glaubt, dass viele Menschen dennoch das Gefühl haben, sie müssten „in Parteien erst eine Ochsentour durchlaufen“. Seine Idee: eine Mitgliedschaft auf Zeit in einer Partei.
„Ich bin sehr dafür, die Parteien zu stärken“, sagte Nabu-Chef und Ex-Umweltsenator Alexander Porschke (Grüne). In Parteien lerne man die vernünftige Abwägung zwischen unterschiedlichen Interessen. „Aber Parteien sind auch abschreckend.“ Neumitglieder würden nicht immer offen empfangen. „Manche sagen sich: Jedes neue Mitglied ist auch eine Konkurrenz.“
Hauke Wagner, Ex-Juso-Landeschef und Vattenfall-Projektmanager, hat schon eine konkrete Idee, um Parteien stärker zu öffnen. „US-Präsident Obama hat im Internet eine Plattform, bei der Bürger Fragen stellen können. Von einer bestimmten Zahl von Unterstützern an müssen die Fragen beantwortet werden“, sagte Wagner.
„Ich wünsche mir mehr Einfluss der Parteien“, sagte Professor Michael Stawicki, Präsident der Hochschule für Angewandte Wissenschaften. „Aber das hinzubekommen ist schwierig.“ Viele Menschen seien nicht bereit, alle Positionen einer Partei für sich zu übernehmen.
Wie sagte Lars Haider? „Das Abendblatt will Partei ergreifen, überparteilich natürlich, und zeigen, dass Parteipolitik nicht nur wichtig ist, sondern auch Spaß machen kann.“ Es gibt also 2014 einiges zu diskutieren.