Als Gerhard Schröder 2005 nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen den SPD-Vorsitz hinwarf und dann die Bundestagswahl, wenn auch knapp, verlor, hielten viele den Niedersachsen für gescheitert. Deutschland galt als kranker Mann Europas, fünf Millionen Menschen waren hierzulande arbeitslos, das Land fand keinen Weg aus der Krise. 14 Jahre später regiert eine Kanzlerin das Land, dem es viel besser geht: Seit zehn Jahren wächst die Wirtschaft, nur noch 2,3 Millionen Menschen sind arbeitslos, und die wirtschaftliche Stimmung im Land ist geradezu aufreizend entspannt.

Wer nicht über den nächsten Tag hinausdenkt, wird also Gerhard Schröder für einen Verlierer und seine Nachfolgerin Angela Merkel für eine Gewinnerin halten. Aber vieles spricht dafür, dass in den Geschichtsbüchern bald das genaue Gegenteil stehen könnte: Schon jetzt ist klar, dass die mutigen Schröder-Reformen der Agenda 2010 das Land aus der Agonie befreit haben. Und immer mehr Menschen dämmert, dass die Zehner-Jahre als verlorenes Jahrzehnt in die deutsche Geschichte eingehen.

Steuereinnahmen mit Plus von 70 Prozent

Wann hatte man je so viele Möglichkeiten, die Weichen für eine nachhaltige, ökologische und digitale Wirtschaft zu stellen? Die Steuereinnahmen kletterten von 452 Milliarden Euro 2005 auf 772 Milliarden 2018 – ein Plus von 70 Prozent. In Schröders Amtszeit betrug der Zuwachs gerade sechs Prozent. Aber was hat die Politik daraus gemacht?

Sie ließ die Chance ungenutzt verstreichen und hat vor allem den Umverteilungsapparat auf Hochtouren gebracht: Mütterrente, Rente mit 63, Grundrente. Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente. Baukindergeld.

Eine Kolumne ist zu kurz, um alle Wohltaten aus Berlin aufzulisten. Der kleinste gemeinsame Nenner war stets der nächste Scheck. Inzwischen gibt die Bundesrepublik für die soziale Sicherung 44,1 Prozent des Staatshaushalts aus – mehr als in Skandinavien (42,5 Prozent), den Benelux-Ländern (39,2), der Schweiz und Österreich (40,7).

Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jedes Wochenende  Hamburg und die Welt.
Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jedes Wochenende Hamburg und die Welt. © Andreas Laible

Bei Bildung und Infrastruktur hinkt Deutschland seinen Nachbarn hingegen hinterher. Beim Mobilfunkstandard 4G landet die Bundesrepublik abgeschlagen hinter Ländern wie Polen und Albanien auf Rang 32 von 36, beim Anteil der Glasfaseranschlüsse ist Deutschland mit 2,1 Prozent Anteil Entwicklungsland, abgeschlagen hinter Litauen (72 Prozent) und Spanien (52 Prozent).

Deutschland ist nicht mehr innovativ

Die gute Konjunktur hat die Große Koalition leichtsinnig, wenn nicht fahrlässig gemacht: Die Energiewende kostet bald eine Billion Euro. Der Strompreis steigt und steigt, aber der CO2-Ausstoß sinkt nur leicht. Weder liegt die Bundesrepublik bei neuen Technologien vorn (sogar das Elektroauto wurde in Kalifornien vorangebracht), noch hat irgendein zweites Land sich die Energiewende zum Vorbild genommen.

Trotzdem sattelt die Bundesregierung nun noch den Kohleausstieg drauf. Wir sind nicht mehr innovativ, wenn es darum geht, Zukunftstechnologie zu entwickeln, sondern jagen lieber Moden hinterher und fördern diese üppig: Gestern sollte der Diesel die Welt retten, heute ist es der Elektromotor – mal sehen, was morgen kommt.

Die Bundesregierung verfrühstückt das Büfett, das Gerhard Schröders rot-grüne Regierung finanziert hat – und feiert die eigene Sattheit schon als Leistung. Und statt darüber nachzudenken, wie Nachschub auf den Tisch kommt, wird der Kuchen munter weiter verteilt, bevor er überhaupt gebacken wurde.

Wirtschaftsprognosen: Nur Italien liegt hinter Deutschland

Dabei sollten die Wirtschaftsprognosen Warnung genug sein: Ökonomen der Deutschen Bank erwarten für 2019 noch ein Wachstum von 0,5 Prozent. Nur Italien, über das wir Deutschen uns gern lustig machen, liegt mit einem Plus von 0,3 dahinter. Die „Brexit-Briten“ (1,5 Prozent) und die „Pleite-Griechen“ (1,9 Prozent) liegen besser.

Natürlich ist der volkswirtschaftliche Erfolg nicht allein vom Bundeskabinett abhängig – Deutschlands Wirtschaft leidet unter den weltpolitischen Verwerfungen, den heraufziehenden Handelskonflikten und an hausgemachten Problemen vieler Unternehmen, etwa der Autobranche.

Aber die Politik steckt den Rahmen. In der Großen Koalition zwischen 2005 und 2009 haben SPD und Union unter Angela Merkel vieles richtig gemacht. Gerade machen sie extrem viel falsch: Vielleicht funktionieren Große Koalitionen doch nur in Krisen. Den Beweis müssen sie vielleicht bald erbringen.