Hamburg. Perfekt oder Präteritum, das ist hier die Frage. Über die Chronologie der Tempora.
Mutter guckt frühmorgens aus dem Fenster und gibt Vater, der im Pyjama mürrisch in Richtung Badezimmer schlurft, den Wetterbericht ihrer Wohnstraße durch. „Es hat geregnet“, verkündet sie und schließt das daraus, dass der Boden dunkel und feucht ist und sich auf dem Gehweg sogar ein paar Pfützen gebildet haben. Andererseits: Im Augenblick regnet es nicht mehr. Mutter interpretiert ein Ereignis der Vergangenheit. Warum sagt sie „Es hat geregnet“ und nicht „Es regnete heute Nacht“?
Für die Beschreibung der zeitlichen (chronologischen) Abfolge eines Vorgangs müssen wir genau auf die Zeitformen (Tempora) eines Verbs achten. Was sich irgendwann vor unseren Augen abspielt, ist die Gegenwart, fachsprachlich Präsens geheißen. Es regnet, daran ist nicht zu deuteln, höchstens an der Stärke des Niederschlags. Es gießt, es fieselt, es schüttet, oder es stürzt ein Unwetter herab. Auf jeden Fall herrscht dann kein Wetter zum Spazierengehen.
Meine Großmutter zog deshalb den Schluss: „Dor mogst keen Köter vör de Döör jogen!“ Doch in Mutters Bericht war der Regen bereits vorbei, war vollendet und abgeschlossen. Sie berichtete über die Vergangenheit, benutzte aber nicht die grammatische Form der Vergangenheit („Es regnete“), sondern das Perfekt, die vollendete Gegenwart („Es hat geregnet“).
Deutschstunde: Wenn die Vergangenheit zur Gegenwart wird
Das Perfekt aus lat. perfectum tempus (vollendete Zeit) ist eine Form des Verbs, mit der ein Geschehen oder ein Zustand aus der Sicht des oder der Sprechenden als vollendet angesehen und somit durchaus der Vergangenheit zugeordnet wird, wobei das Hilfsverb „hat“ im Präsens jedoch einen Bezug zum Sprechzeitpunkt herstellt. Das Perfekt ist in der Umgangs- und Nachrichtensprache die gängige Zeitform, mit der ein verbales Geschehen oder Sein aus der Sicht des Sprechenden als vollendet charakterisiert wird. „Papa singt“ ist Gegenwart, wir hören es, unsere Ohren schmerzen. Bei „Papa hat gesungen“ ist der Gesang hingegen glücklicherweise vollendet und vorbei.
Das Präteritum (oder Imperfekt) dagegen ist die Zeitform der Vergangenheit (aus lat. tempus praeteritum – vergangene Zeit). Das Präteritum bedient eine Tempus-Form des Verbs, die ausdrückt, dass das Geschehen vom Standpunkt des Sprechers keinen direkten Bezug zur Sprechzeit hat. Es vermittelt Distanz und versetzt den Leser oder Hörer in die Vergangenheit. Das Präteritum ist das Haupttempus in allen schriftlichen Erzählungen und Berichten, die von einem erdachten oder wirklichen Geschehen handeln: Old Shatterhand „ergriff“ Winnetous Hand und „sah“ dem Häuptling tief in die Augen.
Wenn es spannend wird, kann die Vergangenheit sogar in der Gegenwart stattfinden
Allerdings wird das Präteritum immer mehr zu einem Tempus der geschriebenen Sprache. Südlich von Frankfurt am Main ist es laut Duden in der Umgangssprache bereits ausgestorben. Hier muss der Sprecher auf das Perfekt als Vergangenheitsform ausweichen. Selbst die gedruckte Zeitungssprache kann durch das Perfekt lebendiger wirken. „Flick verlor 1:4 gegen Japan“ klingt wie ein Ausrutscher aus besseren Zeiten, aber „Flick hat seinen Job nach der Niederlage gegen Japan verloren“ zwingt die Diskussion über ein vergangenes Ereignis in die Gegenwart.
Wenn es spannend wird, kann die Vergangenheit sogar in der Gegenwart stattfinden. Flick „verlor“ nicht gegen Japan, er „hat nicht gegen Japan verloren“, sondern „er verliert seinen Job nach dem 1:4 gegen Japan“. Diesen Sprung in die Gegenwart nennt man Praesens historicum, das „historische Präsens“. Bei lebhafter Vorstellung und Schilderung vergangener Vorgänge gebraucht der Autor das Präsens, um die Spannung zu erhöhen. Das wissen nicht nur Journalisten, sondern auch Schriftsteller wie Karl May, die mithilfe des Praesens historicum die Leserschaft scheinbar mitten ins Geschehen holen: Winnetou „greift“ zum Tomahawk und „spaltet“ dem Grizzly den Schädel.
Missverständlich wegen des Tempus ist folgende Anzeige: „Ich eröffnete gestern mein neues Geschäft in der Hauptstraße.“ Hier wird allerdings kein völlig in der Vergangenheit liegendes Geschehen mitgeteilt, sondern ein Ereignis, das weiterhin Wirklichkeit ist. Daher: „Ich habe gestern mein neues Geschäft in der Hauptstraße eröffnet.“