Hamburg. Nach drei Jahren Reallohnverlust sind Streiks für eine Tariferhöhung legitim. Die umsatzstärksten Unternehmen fahren hohe Gewinne ein.
Noch vor wenigen Monaten wären die meisten Hamburger wohl sicher gewesen, dass so etwas nur in Großbritannien oder Frankreich vorkommen kann. Doch inzwischen hat die Gewerkschaft Ver.di eine regelrechte Streikwelle in Deutschland ausgelöst. So soll am heutigen Montag am Hamburger Flughafen kein Flugzeug abheben können, weil das Personal der Passagierkontrollen die Arbeit niederlegt.
Am Dienstag und Mittwoch treten Beschäftigte in Hamburger Krankenhäusern in den Ausstand. Für den 27. März planen Ver.di und die Bahn-Gewerkschaft EVG angeblich gar einen flächendeckenden Streik im deutschen Verkehrssektor. In den vorigen Wochen hatte es zudem mehrfach Warnstreiks bei der Post gegeben.
Warnstreik: Rekordgewinne für die 100 umsatzstärksten Unternehmen
Eine Häufung derart massiver Arbeitskampfmaßnahmen ist für die Bundesrepublik zwar tatsächlich ungewöhnlich. Es gibt aber eine ganze Reihe von Gründen, warum Gewerkschaften sich jetzt in einer günstigen Position sehen, die Muskeln spielen zu lassen: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mussten zuletzt drei Jahre hintereinander deutliche Reallohnverluste hinnehmen. Auch wenn die Inflation den Höhepunkt wohl überschritten hat, bleibt sie auch in diesem Jahr hoch.
Auf der anderen Seite konnten die 100 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland im Jahr 2022 in der Summe Rekordgewinne einfahren. Und schließlich bewegt sich die deutsche Volkswirtschaft in Richtung Vollbeschäftigung, in zahlreichen Wirtschaftszweigen wird Personal händeringend gesucht. Insofern sind die hohen Tarifforderungen auch die direkte Folge einer Knappheit – sie haben sich durch den Mechanismus des Marktes, um dessen Funktionsfähigkeit die Arbeitgeber stets besorgt sind, ergeben.
Für 2023 wird mit einer Teuerungsrate von sechs Prozent gerechnet
Sind nun aber Lohnforderungen im zweistelligen Prozentbereich gerechtfertigt? In vergangenen Jahrzehnten spielte in Tarifverhandlungen der Begriff des Verteilungsspielraums eine große Rolle. Er besagt Folgendes: Wenn ein Tarifabschluss der Inflationsrate plus dem Fortschritt der Arbeitsproduktivität entspricht, ist er in seiner Höhe angemessen und schadet den Unternehmen nicht.
Für 2023 rechnet die Bundesregierung mit einer Teuerungsrate von sechs Prozent, die Produktivität hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren um insgesamt fast neun Prozent erhöht. Damit läge der Verteilungsspielraum jetzt bei knapp sieben Prozent. Geht man davon aus, dass sich die Tarifparteien meist ungefähr in der Mitte treffen, wäre selbst eine Lohnforderung von 15 Prozent, wie sie Ver.di gegenüber der Post erhoben hatte, nicht wesentlich überhöht. Hinzu kommt: Die derzeit vereinbarten Abschlüsse enthalten in der Regel hohe Einmalzahlungen, während die permanenten Tarifsteigerungen vergleichsweise moderat bleiben.
Warnstreik: Es kommen Forderungen nach Einschränkungen des Streikrechts
Angesichts des Umfangs der aktuellen Arbeitsniederlegungen überrascht es nicht, dass wieder einmal Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts aufkommen. Doch gilt für diese Form der Tarifauseinandersetzung seit jeher das Gebot der Verhältnismäßigkeit – Gerichte haben mehrfach schon Streiks verboten, darunter solche der Lokführer-Gewerkschaft. Und grundsätzlich lobt selbst der Arbeitgeberverband BDA die Tarifautonomie als „tragende Säule unseres Wirtschaftssystems“ und als „Garant für sozialen Frieden und Wohlstand“.
Dazu gehört aber untrennbar das Streikrecht, denn sonst säßen in Tarifverhandlungen immer die Arbeitgeber am längeren Hebel. Das mögen sich, auch wenn es sicher schwerfällt, die Passagiere vor Augen führen, deren Abflug in Hamburg gestrichen wurde. Nur: ob der Warnstreik ausgerechnet in den Ferien sein musste?