Bei Marjorie Taylor Greene sucht man Anstand und Etikette vergebens. Stattdessen fällt sie durch rassistischen Äußerungen auf.
Es waren nur zwei Wörter. Aber ihre Schockwellen wirkten noch viele Jahre nach. „Sie lügen“, hatte der republikanische Kongress-Hinterbänkler Joe Wilson wutentbrannt in den Saal gerufen, als ein gewisser Barack Obama seine umstrittene Gesundheitspolitik verteidigte. Im Herbst 2009 war das. Ein in der Geschichte des amerikanischen Parlaments bis dahin einmaliger Tabubruch.
Selbst beinharte Konservative waren über die rhetorische Kneipenschlägerei ihres Kollegen erschrocken. Wilson, der sich nur Stunden später kleinlaut bei Obamas Stabschef entschuldigte, dass ihm die Pferde durchgegangen seien, wurde wegen „Bruchs der Anstandsregeln“ und „Diskreditierung des Parlaments“ offiziell gerüffelt.
Politikerin wirft Joe Biden während Rede zur Lage der Nation neunmal vor, zu lügen
Danach schwor sich die Politik parteiübergreifend bei allen Meinungsverschiedenheiten gegenüber dem höchsten Repräsentanten des Landes das zu wahren, was man in den USA „decorum“ nennt: Anstand. Etikette. Schicklichkeit.
Zeitsprung. 7. Februar 2023. „State of the Union“. Ein politisches Hochamt. Die von rund 28 Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern am Fernseher verfolgte „Rede zur Lage der Nation“. Gehalten von Joe Biden. 46. Präsident der Vereinigten Staaten. Demokrat. Und damit schon vor dem ersten Satz im Zielfernrohr einer Frau, die das Parlament regelmäßig zur Kirmes-Boxbude macht und den moralischen Untergang der „Grand Old Party“ verkörpert wie sonst kaum jemand: Marjorie Taylor Greene.
Die ehemalige Leiterin eines Fitnessstudios aus Georgia brachte es fertig, den Präsidenten bis zum Ende der 73 Minuten langen Rede neunmal der Lüge zu zeihen. Dazu kamen von der Frau, deren für die Kameras ausgesuchte Garderobe mit dem weißen Pelzkragen wahlweise an ein Eisbärkostüm oder den abgeschossenen chinesischen Stasi-Ballon erinnerte, andere den Redefluss Bidens unterbrechende Bemerkungen. Inklusive Daumen-runter-Gestik. Der Unterschied zu 2009: Niemand in der republikanischen Fraktion von mehr als 200 Köpfen rief die dauerkrawallige Tochter eines Bauunternehmers zur Räson. Niemand suchte die offene Konfrontation mit der 48-Jährigen, die erst mit Donald Trump 2016 auf die politische Bühne Washingtons gespült wurde.
Nicht die erste Entgleisung von Marjorie Taylor Greene
Der Grund ist simpel wie beängstigend. Um Sprecher des Repräsentantenhauses zu werden, benötigte der Republikaner Kevin McCarthy auch die Stimmen von rund 30 latent rechtsextremen Irrlichtern in der eigenen Partei. Marjorie Taylor Greene ist deren Poster-Girl. „Ein Pakt mit der Teufelin“, sagen Konservative in Washington. Ihnen stößt die Unzivilisiertheit von Greene sauer auf, für die der demokratische Stratege James Carville nur eine Bezeichnung übrig hat: „real white trash“.
Dazu muss man einen Blick in das Sündenregister der chronisch aggressiven Frau werfen. Greene ist Tabellenführerin im Wettbewerb um die meisten rassistischen, antisemitischen und antimuslimischen Entgleisungen. So fabulierte sie im Wahlkampf 2020 von einer „Invasion der Muslime“ in der Regierung. Schwarze waren für sie „Sklaven der Demokraten“. Später verglich sie die Maskenpflicht während der Corona-Pandemie mit der Art und Weise, wie Hitlers Nationalsozialisten die Juden behandelt hätten. Als in Kalifornien Waldbrände wüteten, äußerte sie ernsthaft den Verdacht, das Feuer könnte von Laser-Kanonen im Weltraum verursacht gewesen sein – natürlich alles finanziert von einer jüdischen Bankiersfamilie.
Dass Greene gegen Transgender-Menschen ätzt, in sozialen Medien zu Gewalt gegen Demokraten anspornt und die in Haft sitzenden Radikalinskis des Sturms aufs Kapitol als politische Gefangene adelt, versteht sich fast von selbst. Dass Greene per McCarthy-Dekret politisch unter Naturschutz steht, treibt bizarre Blüten. Manche wollen sie noch übertreffen. Clay Higgins aus Louisiana drohte hochrangigen Twitter-Funktionären gerade vor laufender Kamera mit Gefängnis. Vorwurf: Sie hätten vor der Präsidentschaftswahl 2020 wissentlich Trump durch die Zensur von Twitter-Beiträgen benachteiligt. Jüngstes Gerücht: Greene möchte Vizepräsidentschaftskandidatin auf dem Ticket von Donald Trump werden. Ohne Worte.