Hamburgs Altbürgermeister im Gespräch mit Matthias Iken. Heute über die Lage in Europa nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien.
Matthias Iken: Das verheerende Erdbeben an der syrisch-türkischen Grenze hat die Welt erschüttert. Haben Sie die Hoffnung, dass diese Naturkatastrophe die Menschheit vielleicht zur Vernunft rufen kann?
Klaus von Dohnanyi: Erdbeben sind nicht von Menschen verursacht. Aber: In bestimmten Regionen entsprechen sie historischer Erfahrung. Das gilt auch für die Zone Türkei/Syrien und sehr aktuell für Istanbul. Einstürzende Gebäude sind die gefährlichste Folge. Die Türkei hat Gesetze für erdbebensicheres Bauen erlassen, aber viele Gebäude sind alt. Mehr Vernunft hieße jetzt, einen umfassenden europäischen Katastrophenschutz für die schnellere Rettung der Menschen auch bei Erdbeben zu schaffen. Pandemien, Waldbrände, Wassermangel, Hunger und Migration sind heute weitere große Gefahren für die Menschheit. Schon das Erdbeben im syrisch-türkischen Raum wird am Ende vermutlich in einer Nacht mehr als die dreifache Zahl an zivilen Opfern gefordert haben als der Ukrainekrieg in einem Jahr. Die EU-Kommission mischt sich in vielerlei Dinge ein, aber für einen gemeinsamen Katastrophenschutz wäre in Europa noch viel Luft nach oben.
Iken: Müssen wir die Prioritäten neu setzen?
Dohnanyi: Deutschland und der Rest Europas waren und sind von Russland nicht bedroht; dafür gab und gibt es keinerlei Hinweise. Im Ukrainekrieg geht und ging es von Anbeginn nur um deren Mitgliedschaft in der Nato, die Putin durch seinen Angriffskrieg verhindern wollte. Aber auch die Ukraine wollte sich mit einem Status wehrhafter Neutralität unter UNO-Sicherheitsgarantie nicht abfinden. Verteidigt nun die Ukraine unsere Freiheit? Durch die indirekte Beteiligung an diesem Krieg verlieren wir eher an wirtschaftlicher Kraft und damit an Selbstbestimmung und Freiheit. Statt immer mehr Waffen wären diplomatische und finanzielle Investitionen in einen Interessenausgleich für uns die klügere Priorität. Doch wer ist dazu bereit?
Iken: Was bedeutet das für die europäische Politik?
Dohnanyi: Einem überzeugten Europäer wie mir fällt es immer schwerer zuzuschauen, wie Europa den angeblichen Interessen der heutigen ukrainischen Regierung willenlos folgt. Wie lange ist es eigentlich her, dass sich Wolodymyr Selenskyj im Wahlkampf um die Präsidentschaft als verständigungsbereiter Russlandversteher darstellte? Sein Rollenwechsel zum Russlandfeind geschah übrigens vor dem Angriff Putins! Warum? Wer nicht zur Verständigung mit unserem größten Nachbarn Russland bereit ist, der taugt weder für eine Mitgliedschaft in der Nato noch in der EU!