Hamburg. Der Altbürgermeister im Gespräch. Heute über den Umgang Baerbocks mit Otto von Bismarck.
Matthias Iken: Das Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt unter Annalena Baerbock heißt jetzt „Saal der Deutschen Einheit“. Was halten Sie als ehemaliger Staatsminister in diesem Ministerium davon?
Klaus von Dohnanyi: Einen Raum im Auswärtigen Amt der deutschen Einheit zu widmen ist sicherlich eine gute Idee. Aber warum ausgerechnet dafür das Bismarck-Zimmer opfern? Bismarck ist nicht „in“, nicht „woke“ bei Baerbocks Generation. Sicher, Otto von Bismarck war immer umstritten, auch zu seiner Zeit. Aber er war eben auch der Architekt der deutschen Einheit auf den Trümmern der Hinterlassenschaften von Napoleon und wohl der größte Sozialreformer der deutschen Geschichte: Auf seine Regierungszeit (1862 bis 1890) gehen die Grundsätze der Krankenversicherung, der Unfallversicherung, der Invalidenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung zurück; auch Krankenkassen und Berufsgenossenschaften. Versteht Frau Baerbock , welche Bedeutung diese zentralen Sozialsysteme im deutschen Föderalismus für die „Einheit“ der Deutschen seit Bismarck hatten, auch für die Wiedervereinigung nach 1990?
Iken: Welches Geschichtsbewusstsein steckt dahinter, wenn jetzt Denkmäler umbenannt oder vom Sockel gestoßen werden?
Dohnanyi: Die Bewegung ist weltweit, alles wird immer schneller, gestern ist schon bald weiter weg als vorgestern. Ich war schon fast 50 Jahre alt, als wir in Deutschland erst die Strafbarkeit der Homosexualität aufhoben. Vergessen? Oder: Bis in die 1960er konnte in den USA der Verkauf von Häusern an Schwarze oder Juden rechtlich verhindert werden. Nichts dazugelernt? Doch, viel! Aber bitte keinen Generationenhochmut! Wundervoll schrieb dazu der große Soziologe Norbert Elias: „Nichts ist gewöhnlicher als Historiker, die über wehrlose Menschen früherer Zeiten zu Gericht sitzen und dabei Werte ihrer eigenen Gegenwart als Maßstab gebrauchen.“ Gewöhnlicher meint hier verächtlicher. Das gilt auch bei der Beurteilung von Werten anderer Nationen in anderen Entwicklungsstufen.
Iken: Hierzulande gab es kaum Widerspruch – abgesehen von der Familie Bismarck. Haben Sie da jemanden vermisst?
Dohnanyi: Ja, insbesondere eine laute Stimme aus der Regierung. Man redet sich ja auch beim Gaspreisdeckel und beim Bürgergeld dazwischen. Also: Wo ist eigentlich die alte FDP? Otto Graf Lambsdorff hatte hinter seinem Schreibtisch im Wirtschaftsministerium ein lebensgroßen Bild Bismarcks aufhängen lassen. Wie wäre es mit einer Leihgabe von Baerbock an Lindner? Auch das Finanzministerium hat ja bedeutende historische Räume!