Hamburg. … die Chance vergeigte, ein ganz Großer zu werden. Denn er hatte mal richtig gute Träume.

Ich blättere in einer Zeitung, und auf ihrer bunten Seite erfahre ich, dass „die Tennis-legende Boris Becker“ noch vor Weihnachten aus dem Gefängnis entlassen und „als freier Mann nach Deutschland abgeschoben“ werde. Um „Großbritanniens Haftanstalten zu entlasten“.

Ein Blick zurück: Boris Becker liegt auf dem Boden, er liegt da und brüllt: „Out! Out!“ Auf dem Tisch bei mir im Wohnzimmer warten Ochsenschwanz, Spätzle und schwerer Rotwein. Er liegt lang hingestreckt auf dem Parkett und imitiert japanische Linienrichter. Die, meint Becker, seien die strengsten und genauesten der Welt. Unbarmherzig korrekt. Out! Out!

Als ein Teenager plötzlich Aufstand übte

Das war im Spätherbst 1989. Boris Becker war gerade von seinen Konkurrenten zum besten Spieler des Jahres gekürt worden. Er selbst hielt sich sowieso schon längst für unschlagbar, und er hatte in diesen Tagen unbändige Lust zu provozieren. Er ließ sich die Haare länger wachsen, er lieh sich von mir die Biografien von James Dean, Marlon Brando, Arthur Miller, Rudi Dutschke, denn er wollte so sein, wie er meinte, dass sie waren: Rebellen, Revoluzzer, unangepasst, störrisch.

Er sagte das so: „Ich in in ihrer Liga. Mein ganzes Leben lang werde ich welt­berühmt sein. Kannst du dir das vorstellen?“ Der bis dahin so brave Teenager übte plötzlich den Aufstand. Gegen den Papa, die Zwänge, die „Bild“-Zeitung. Boris gegen den Rest der Welt – so sah er sich: Boris allein gegen alle.

„Dieses nationalistische Gerede habe ich satt“

Der als deutscher Jungheld hemmungslos Gefeierte gab damals in diesem Gespräch überaus Unerwartetes, nein, Ungehöriges von sich, zum Beispiel so etwas: Bundeswehr? Nein, danke. „Ich würde nie ein Gewehr in die Hand nehmen.“ Hafenstraße­? Mein Gott, diese zu RAF-Terroristen hochgejazzten Hausbesetzer in Hamburg „sind mir sympathischer als manche Menschen in meiner Umgebung“.

Deutschland? „Dieses nationalistische Gerede habe ich satt.“ Das Gespräch provozierte einen Großaufschrei in den Medien, eine Flut von Leitartikeln und Kommentaren, die oft verzweifelt mit der neuen Widerspenstigkeit Beckers rangen.

Was aus Boris Becker wurde, das weiß jeder. Was aus ihm hätte werden können, das zeigt dieses Gespräch, das so endete:

Luik: Sportler, heißt es allenthalben, sind Vorbilder. Sind Sie eines?

Becker: Aus Sportlern werden Vor­bilder gemacht. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. Wenn du Olympia- oder Wimbledonsieger bist, hast du ein Vorbild zu sein für Kinder und Erwachsene, weil du ein Ziel erreicht hast, vom dem so viele träumen. Sie sehen dich als Idol. Dass du das gar nicht willst, ist allen egal. Du wirst nicht danach gefragt, du bist es einfach. Nochmals: Wir leben im Jahr 1990, und es geht im Sport nur ums Geld. Das ist traurig, aber wahr. Das ist traurig, weil der Mensch in diesem Zirkus auf der Strecke bleibt.

Luik: Sie sind verbittert?

Becker: Nein, überhaupt nicht. Wir haben über die Werte in dieser Gesellschaft geredet, und ich habe gesagt, dass die Werte falsch sind: Geld und Ruhm machen nicht glücklich.

Luik: Definieren Sie mal: Wer ist Boris Becker?

Ein Mensch, der sehr früh extreme Situationen erfahren hat und der es gelernt oder geschafft hat, sie für sich als Vorteile zu nutzen. Ein Mensch, der im Augenblick noch ein bisschen Schwierigkeiten hat, wirklich Mensch zu sein, da er noch an viele Verpflichtungen gebunden ist, der aber glaubt, dass sie ihn in ein paar Jahren nicht mehr binden und er dann nur noch Mensch sein kann. Ohne Logo auf den Schuhen, ohne Logo auf der Kleidung – wirklich frei, absolut frei.

Boris Becker hat nun Knasterfahrung

Ein paar Monate nach diesem Gespräch: Die Stadt brodelt wegen der Hafenstraße, Straßenbarrikaden, Demon­strationen, die Hausbesetzer wehren sich gegen angedrohte Räumung, ein jahrelanger heftiger Kampf, angespannte Aufregung allenthalben; beim Tennisturnier am Rothenbaum hingegen freudige Aufregung. Boris Becker hat gute Chancen, das Turnier erstmals (was dann doch nicht klappt) zu gewinnen.

Er steht auf dem Platz, plötzlich dringen Rufe von draußen vor der Tür stehenden Hafenstraßen-Sympathisanten ins Stadion: „Boris, komm an den Hafenrand, wir brauchen deine Vorderhand!“ Einige von diesen Demonstranten hatten schon damals das, was Boris Becker jetzt hat: Knasterfahrung.