Hamburg. Corona-Schulschließungen waren ein Fehler, die offenen Grenzen so kurzsichtig wie das Putin-Vertrauen.

Hinterher ist man immer schlauer. Leider hilft diese Weisheit dann nicht mehr weiter. Besser wäre es, früher schlau zu sein. So erging es vielen, die diese Woche schwarz auf weiß bescheinigt bekamen, dass das wochenlange Dichtmachen von Kindertagesstätten in der Pandemie falsch war.

„Das Schließen von Kitas ist definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen“, sagte Karl Lauterbach nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Corona-Kita-Studie. Zu ähnlichen Erkenntnissen kam man schon nach den monatelangen Schulschließungen, bei denen Deutschland besonders lang und konsequent junge Menschen von der Bildung ferngehalten hat.

Karl Lauterbach hat Fehler erkannt

Nun soll es nicht darum gehen, nachzukarten. Auch Karl Lauterbach, die Corona-Unke im Dauermodus, hat Fehler erkannt und klargemacht, dass es keine Schließungen dieser Art mehr geben wird. Die Einsicht ist gut, die Konsequenz richtig. Zur Wahrheit gehört auch: Gerade zu Beginn der Pandemie wusste niemand, wohin die Reise geht und welcher Weg der richtige ist. Irren ist menschlich. Triumphgeheul und Schuldzuweisungen bringen niemanden weiter, der Schaden ist da. Und ihn haben die jungen Menschen.

Und doch können und müssen wir aus dieser Geschichte lernen: Es ist nie schlimm, eine andere Meinung zu haben. Es ist sogar gut. Das wirklich Bittere an der Corona-Debatte war, dass fast nur eine Meinung in der Öffentlichkeit akzeptiert wurde. Wer zur maximalen Vorsicht riet, stand per se auf der guten Seite, wer die schlimmsten Prognosen („Hunderte tote Kinder“) parat hatte, dem trauten viele die größte Expertise zu, wer die schrillsten Warnungen in die Welt sendete, bekam die größte Aufmerksamkeit.

Es ging nicht mehr um Argumente

Schlimmer noch: Wer anderer Meinung war, war bestenfalls ein Bruder Leichtfuß, schlimmstenfalls ein Sicherheitsrisiko, ein Querdenker oder gleich ein Rechter. In der Pandemie dauerte es nur wenige Tage, da ging es nicht mehr um Argumente oder Hypothesen, sondern nur noch um gut oder böse. Die Frage nach dem Umgang mit dem tückischen Virus wurde auf eine moralische Ebene gehoben – und damit jeder Widerspruch weggewischt.

Man erinnere nur an die Reaktion auf den Aufstand der Künstler („Alles dicht machen“) oder die Great Barrington Declaration renommierter Wissenschaftler. Das Echo war verheerend: „Alle nicht ganz dicht“, „bizarr“, „fachlich unhaltbar“. Schnell ging nicht es mehr um Argumente, sondern um das Ausgrenzen der Andersdenkenden als Populisten, Rechtsausleger, Querdenker oder Dummbärte.

Intellektuelle Standgerichte weit verbreitet

Das alles hatten wir schon einmal fünf Jahre zuvor. Wer damals wagte, der gefeierten Willkommenskultur ein paar Widerworte zu geben, wanderte schnell ins Lager der Unmenschen. Und wer moralisch verkommen ist, der ist raus aus der Debatte. Oder er hält in Zukunft lieber den Mund, bevor er in die falsche Ecke gestellt wird. Was 2015 so hundertprozentig geklappt hat, wiederholen manche im Jahr 2022. Leider sind diese intellektuellen Standgerichte und medialen Schnellgerichte noch immer weit verbreitet. Da wird die moralische Entrüstung über die anderen auch zur willkommenen Gelegenheit, sich selbst ins helle Licht zu rücken.

Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Erinnern Sie sich an die Reise Robert Habecks in die Ukraine? Er sagte im Mai 2021, neun Monate vor dem Überfall Putins: „Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, kann man meiner Ansicht nach ... der Ukraine schwer verwehren.“ In Deutschland war sofort der Teufel los, eine ganz große Koalition von der Linkspartei bis zur Kanzlerin Angela Merkel war empört. Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich höhnte und tönte, „der ehemalige Landesumweltminister verkenne das komplexe Krisenmanagement in der Region“. Auch das grüne Urgestein Jürgen Trittin schurigelte Habeck.

„Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte recht haben“

Das zeigt: Auch wenn sich vermeintlich alle einig sind, müssen sie damit nicht unbedingt richtigliegen. Und moralische Empörung über Andersdenkende sagt wenig über die Kraft der Argumente, aber viel über den Charakter aus. Wenn wir hingegen die Debatte öffnen, kommen wir vielleicht zu anderen Ergebnissen.

Erinnern wir uns an den schönen Satz: „Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte recht haben.“ Und Intoleranz ist die Angst, der andere könnte recht haben.