Hamburg. Gegen Ausgrenzung und Selbstradikalisierung hilft nur Integration – so kann Kruses Beitritt ein Gewinn sein.
Klagegesänge auf das Sterben der Demokratie sind populär geworden. Dabei hat der Mittwoch einmal mehr gezeigt, dass man dringend die integrative Kraft der Demokratie loben muss. Aus Berlin kam die traurige Meldung, dass Hans-Christian Ströbele aus dem Leben geschieden ist. Ströbele, der Mann mit dem roten Schal auf dem Fahrrad, war einer der bekanntesten Grünen-Politiker. Ihm gelang das Kunststück als bisher einziger Grüner, viermal in Folge sein Direktmandat zu gewinnen. Gut, das war im Wahlkreis Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg. Und trotzdem ist es eine beachtliche Leistung.
Noch spannender indes ist sein Lebensweg: Er war einst ein Linksradikaler. Anfang der 80er-Jahre wurde er zu einer 18-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er die Terrororganisation RAF unterstützt hatte: „Ohne die Hilfe einiger weniger Rechtsanwälte, darunter des Angeklagten, wäre die Konsolidierung und das Fortbestehen der RAF in der Haft nicht möglich gewesen“, hieß es in dem Urteil.
Ströbele suchte den Konflikt im Parlament
Später blieb Ströbele ein leidenschaftlicher Linker, er suchte den Konflikt und bezog auch Positionen auf der linken Außenbahn des demokratischen Sektors, die vielen seltsam anmuteten. Er tat das aber an einem Ort, wo Streit kein Makel ist, sondern Lebenselixier – im Parlament. Wie Ströbele sind viele Verirrte der 70er erwachsen geworden und haben ihren Frieden mit dem vermeintlichen „Scheiß-Staat“ gemacht – der RAF-Anwalt Otto Schily wurde gar ein ausgezeichneter Bundesinnenminister für die SPD.
Am Mittwoch ist noch etwas passiert, was der parlamentarischen Demokratie in Deutschland guttun könnte. Der Kreisverband Nord der CDU hat Jörn Kruse aufgenommen. Den Kruse von der AfD, den früheren Landes- und Fraktionschef? Genau. Anders als bei den berechtigten Freundlichkeiten für Ströbele wurde es für die Union und ihren Landesvorsitzenden Christoph Ploß eher unfreundlich. Der eigene Kreisverband Altona ging auf Konfrontationskurs und will für die Zukunft Parteiwechsel ausschließen.
Ruprecht Polenz reagierte empört
Ruprecht Polenz, im Jahr 2000 für einige Monate Generalsekretär der Union, empörte sich auf Twitter: „Bis 2018 (!!!) an führender Stelle (!) in der AfD gewesen. Alle Hetze gegen Flüchtlinge nach 2015 zumindest aktiv geduldet. Ich verstehe nicht, warum der Hamburger CDU-Vorsitzende Ploß höchstpersönlich den Ex-AfD-Landesvorsitzenden in die CDU aufnimmt.“
Kritik vom politischen Gegner gehört dazu, aber von den eigenen Leuten? So richtig und wichtig die konsequente Abgrenzung von der AfD ist, warum muss man sich von denen abgrenzen, die sich qua Austritt und Absingen schmutziger Lieder längst abgegrenzt haben? Gibt es eine Resozialisierung nur für Straftäter, aber nicht mehr für politische Irrläufer?
Auch Frauke Petry verließ die Partei
Bei allem Unbehagen über die Alternative für Deutschland – die Partei hat sich wie Ströbele von ihren alten Positionen entfernt, nur nicht in Richtung Mitte, sondern stramm zum rechten Rand. Gründer Bernd Lucke musste 2015 gehen, weil er nicht rechts genug war, 2017 ging Frauke Petry, weil die Partei zu rechts wurde, und mit dieser Begründung hat auch der letzte Vorsitzende Jörg Meuthen hingeworfen. Wer sich 2022 in der AfD noch wohlfühlt, dürfte anders gestrickt sein als jene, die 2013 dabei waren. Wenngleich der späte Ausstieg 2018 wie im Falle Kruses eine ziemliche Dickfelligkeit vermuten lässt.
Doch auch wenn es keiner hören will: Die Integration von ehemaligen Wählern in die demokratische Mitte, die eben von rechts nach links reicht, ist für die Demokratie eine gute Nachricht. Wenn Wähler und unbescholtene Ex-Abgeordnete zurück Richtung Mitte streben, kann das heilende Wirkung entfalten. Sie könnte der AfD am Ende mehr schaden als jede wohlmeinende Demo gegen rechts.
CDU wird durch Jörn Kruse nicht radikaler
Diese Integration in die Mitte schützt zudem vor einer Selbstradikalisierung, die sich bei der AfD zuletzt bestaunen ließ: Wer nur noch am radikalen Rand dümpelt, verliert den Blick auf die Realität. Wo alle laut sind, muss man schreien, um gehört zu werden. Wo keiner mehr zweifelt, gerät man zweifellos ins Abseits. In radikalen Gruppen ist man sich vor allem in einem Punkt einig – wo der Feind steht. Genau das ist in den Volksparteien anders. Deshalb dürfte die CDU durch Mitglieder wie Jörn Kruse eben nicht radikaler werden, sondern umgekehrt Menschen wie ihn mäßigen. Und das ist eine gute Nachricht für die Demokratie.