Uns gehen die Menschen aus, die unseren Wohlstand ausmachen. Eine Krise mit Ansage – und weitreichenden Folgen.

Mein Nachbar, ein Rechtsanwalt, hat einer Bekannten 5000 Euro geboten, wenn sie ihm eine Sekretärin vermittelt. Das war im Februar, und das klang nach leicht verdientem Geld. Inzwischen ist Juli, und weder hat die Bekannte die 5000 Euro noch mein Nachbar die Sekretärin.

Was nach einer kleinen Geschichte klingt, ist in Wirklichkeit eine große. Deutschland steht vor einem Sommer mit viel zu wenig Personal. Das spüren Reisende schon am Flughafen, wo die Sicherheitskontrollen um ein Vielfaches länger dauern als vor der Pandemie, und sie werden es am Urlaubsort merken, wenn Restaurants plötzlich nur noch von Donnerstag bis Sonntag geöffnet haben und Ausflüge abgesagt werden, weil Busfahrer fehlen.

Fehlendes Personal: Die Arbeiterlosigkeit ist Ausdruck einer demografischen Katastrophe

Das hat zum Teil mit Corona zu tun, mit den zwei Jahren, in denen sich Hunderttausende beruflich umorientiert haben. Aber wer glaubt, dass die Arbeitskräfte zurückkehren und alles so wird wie früher, der irrt. Denn der Sommer mit dem fehlenden Personal ist nur der Vorbote einer weiteren Krise, die, wie die Pandemie, der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel unser Leben ins Wanken bringen wird. Uns geht nicht die Arbeit aus, uns gehen die Leute aus, die all die Dinge machen, die für unseren Wohlstand so wichtig sind. Auch das wird Teil der neuen Normalität sein, in der wir uns mit ungewöhnlichen Problemen konfrontiert sehen: zum Beispiel einer Arbeiterlosigkeit statt Arbeitslosigkeit.

Was für den oder die Einzelne eine gute Nachricht sein mag – nämlich, dass man es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten leicht haben wird, eine relativ gut bezahlte Arbeit zu finden –, ist für die Gesellschaft die lange vorhergesagte demografische Katastrophe. Weil in Deutschland in der Vergangenheit viel zu wenig Kinder zur Welt kamen, fehlt, wenn jetzt nach und nach die geburtenstarken 1960er-Jahrgänge in den Ruhestand gehen, eine kaum vorstellbare Zahl an Menschen.

Eigentlich müssten jedes Jahr, im Saldo (!), 400.000 Arbeitskräfte aus dem Ausland nach Deutschland kommen, um den Ausfall der Babyboomer auszugleichen. Allein in Hamburg werden bis zum Jahr 2035 rund 133.000 Fachkräfte fehlen. In Schleswig-Holstein überlegt man, wie man möglichst schnell Menschen aus anderen Branchen in Schulen beschäftigen kann. Bildungsministerin Karin Prien (CDU) hält die Lehrkräfteversorgung für die zentrale schulpolitische Frage des nächsten Jahrzehnts.

Arbeitszeiten werden länger werden müssen

Überall fehlen Menschen, und wieder entsteht das Gefühl, dass wir unvorbereitet vor einer schwierigen Situation stehen. Was unverständlich ist, weil die Krise auf dem Arbeitsmarkt eine Krise mit Ansage ist, mit einem Vorlauf von Jahrzehnten. Jetzt werden wir einmal mehr improvisieren müssen, um das Leben, so, wie wir es kennen, halbwegs aufrechterhalten zu können. Viele Arbeitsschritte, am besten komplette Arbeitsplätze, werden automatisiert werden müssen, je mehr, desto besser, auf einmal sind Kassen-, Pflege- oder Bedienroboter keine Bedrohung mehr, sondern die Rettung. Die Digitalisierung wird helfen, weil man, zum Beispiel, nicht mehr aufs Amt gehen muss, um einen neuen Personalausweis zu beantragen. 

Wird das reichen? Nein. Um die Demografiekrise in den Griff zu bekommen, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns von lieb gewonnenen Verhältnissen zu verabschieden. Das beginnt in den Schulen, in denen die Klassen wieder größer werden, weil man damit Lehrkräfte sparen kann, und geht bis zu den Arbeitszeiten. Die werden länger werden müssen, wenn soziale, gesellschaftliche und nicht zuletzt medizinische Standards gehalten werden sollen. Heißt: mehr statt weniger Wochenarbeitsstunden, eine neue Diskussion über das Renteneinstiegsalter – und: Auf die Babyboomer als Arbeitskräfte werden wir nicht verzichten können. Was für viele der fitten Männer und Frauen, denen der Ruhestand bevorsteht, keine schlechte Nachricht sein muss – denn viele von denen haben Lust weiterzuarbeiten. Zum Glück.